Wildwasserpolka
setze meine Schritte vorsichtiger, folge ein Stück einem von Wildschweinen aufgewühlten Trampelpfad, der ums Wasser führt. Im diesigen Morgenlicht blitzt etwas leuchtend Blaues auf – ein Eisvogel schießt durch die Luft. Mit einem langen Birkenast stochere ich im trüben Nass herum, versuche, die Wassertiefe auszuloten. Ein Teil des Stockes bricht ab und geht unter. Dann eben nicht.
Ich kehre zurück zu meinem Wagen und fahre weiter, zur Burg hinauf, halte auf einer Freifläche unterhalb der Burganlage, denke einen Augenblick nach und stelle den Motor ab. Auf dem Beifahrersitz neben mir liegt die Kühltüte, in der ich meine gestrigen Einkäufe verstaut habe: ein Milchkarton, Margarine, abgepackte Salami. Ich leere die Tüte, greife sie mir und steige aus. Auch hier kein Mensch zu sehen. Wenige Meter entfernt befindet sich eine kleine Baustelle, die zu dieser Uhrzeit verwaist ist. Möglicherweise nicht allein zu dieser Uhrzeit, möglicherweise für 100 Jahre, denke ich. Die Baustelle, die Mühle, der Teich, die Straße, die Burganlage –, alles scheint in einen tiefen Dornröschenschlaf gefallen zu sein, und es würde mich nicht wundern, dort oben irgendwo auf den geohrfeigten Küchenjungen zu treffen. Aber mich wundert ohnehin nichts mehr.
Ich schlüpfe unter dem Absperrband hindurch und gehe zu einem Haufen Pflastersteine, die hier offenbar verlegt werden sollen – wann auch immer. So viele Steine wie möglich fülle ich in die Tüte, fasse sie von unten, damit sie nicht reißt und schleppe sie zum Wagen zurück. Mit dem Seil, das ich gestern gekauft habe, schlinge ich einen Knoten um die Tüte und deponiere sie auf dem Rücksitz. Anschließend ziehe ich Schuhe und Jeans aus und schlüpfe in meine stinkende Regenhose. Ich klaue noch schnell eine gut zwei Meter lange Holzlatte von der Baustelle und verfrachte sie in den Mondeo. Dann starte ich den Motor, wende, lasse den Wagen zurück in Richtung Teich rollen. Ich halte am Straßenrand, steige aus, erblicke keine Menschenseele.
Jetzt oder nie.
Eilig öffne ich die Kofferraumklappe und bugsiere den zur Mumie verschnürten Müller heraus, hieve ächzend die Tüte mit den Steinen aus dem Wagen, schleppe sie an den Rand des Teiches, meide die Planken. Anschließend schleife ich die Mumie heran, hole die Holzlatte und schlinge das andere Ende des Seils, mit dem die Tüte verschnürt ist, um die Füße der Mumie.
Barfuß springe ich in das schwarze Wasser, das sofort in meine Regenhose dringt. Die Brühe ist eiskalt und reicht mir bis zu den Oberschenkeln. Fast noch unangenehmer ist allerdings der sumpfige Morast, der mich augenblicklich bis zu den Knöcheln verschlingt. Kaum habe ich einen Fuß befreit, sinkt der andere noch tiefer ein. Ich versuche, den Modder zu ignorieren, ergreife die Mumie von der Kopfseite her, zerre sie ins Wasser, wo sie unentschlossen auf der Wasseroberfläche zu treiben beginnt. Mit der Holzlatte, die ich wie eine Art Wanderstock benutze, arbeite ich mich in Richtung Teichmitte vor. Es geht nur im Schneckentempo voran, das Wasser wird zunächst kaum tiefer, bis ich plötzlich bis über die Hüften einsinke. Meine Füße verlieren sich in einer Masse, die sich anfühlt wie Zement – unmittelbar, bevor er fest wird. Panik ergreift mich. Was, wenn mich dieses schwarze Loch einfach einsaugt, wenn es mich bei lebendigem Leib verschlingt? Doch so weit muss es nicht kommen; allein die Vorstellung, dass mich die Ekelpampe festhält, dass ich mit der Mumie im Schlepptau auf Hilfe warten muss, ist Horror pur. Adrenalin peitscht durch meine Adern, ich beginne, hektisch zu zerren, lasse versehentlich die Holzlatte los, greife nach ihr, kann sie nicht mehr erreichen.
Stopp! Wer in einen Sumpf gerät, muss vor allem eines: Ruhe bewahren. Und er sollte zusehen, dass er sein Gewicht verlagert, auf ein Brett zum Beispiel oder auf einen Rucksack, den er sich unter die Brust klemmt, wie ich aus den Survival-Dokus im Herrenprogramm weiß, in denen sich Exmarines durch die Wildnis schlagen. Schade, dass ich kein Brett bei mir habe, auch keinen Rucksack – der liegt im Wagen –, nur eine schwimmende Mumie …
Tatsächlich: Ich bekomme ein Bein frei, schließlich auch das zweite, spüre festeren Grund, kriege die Holzlatte zu fassen. Marines, ich danke euch! Ihr habt wirklich was drauf.
Ein paar Schritte weiter und das Wasser wird tief, die Latte ragt kaum noch heraus. Ich lasse die Mumie, die durch das Seil mit der am Ufer liegenden Kühltüte
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