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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
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nachlaufen sollen«, antwortete Prue ungerührt und stand auf. Vor ihnen lagen die Überreste ihres Gefährts. Grunzend zerrte Prue das lädierte Rad aus dem dornigen Gestrüpp und begutachtete den Schaden: Der Rahmen hatte den Aufprall ganz gut überstanden, aber der Vorderreifen war völlig verbogen, sodass die verdrehten Speichen in aberwitzigen Winkeln von der Felge abstanden.

    Mit einem lauten Fluch ließ sie das Fahrrad samt Anhänger fallen und trat so heftig gegen ein paar Disteln, dass die Erde aufspritzte.
    Curtis saß im Schneidersitz da und starrte staunend auf die Brücke hinter ihnen. »Ich kann nicht fassen, dass wir das geschafft haben«, keuchte er immer noch schwer atmend. »Wir waren schneller als der Zug.«
    Prue hörte gar nicht zu. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und starrte mit gerunzelter Stirn auf den verbeulten Vorderreifen. Den ganzen Frühling über hatte sie an diesem Fahrrad gebastelt; die jetzt völlig geschrottete Felge war nagelneu gewesen. Ihre Mission fing eindeutig nicht sonderlich gut an.
    »Wir haben uns da hinten ganz gut geschlagen«, sagte Curtis jetzt. »Ich meine, wir haben echt gut zusammengearbeitet. Du bist gefahren, und ich … saß im Anhänger.« Er lachte und massierte sich die Schläfen. »Wir waren Partner, was?«
    Prue hob ihre Tasche auf, die bei dem Sturz auf den Boden gefallen war, und hängte sie sich über die Schulter. »Ciao, Curtis«, sagte sie und bahnte sich ihren Weg durch die Industriewüste auf den steilen baumbewachsenen Hang zu. Ohne Fahrrad und ohne Anhänger.
    Die gelbbraun vertrocknete Wiese führte geradewegs zwischen die eng zusammenstehenden, geheimnisvollen Gebäude. Manche davon waren offenbar mit Wellblech verkleidete Lagerhäuser. Andere wiederum sahen aus wie gewaltige kastenförmige Silos,
deren Türen in schwindelerregender Höhe ins Nichts zu führen schienen und die über Metallrohre mit den Nachbargebäuden verbunden waren. Hinter den wenigen Fenstern leuchtete und flackerte es rot, als wütete ein riesiges Feuer. Außerdem war diese »Stadt« unablässig erfüllt von einem aufdringlichen metallischen Klappern und dem gashaltigen Rülpsen der Schlote, wodurch der höchst eigenartige Eindruck eines vollkommen verlassenen und doch emsig betriebsamen Ortes entstand. Weit entfernt schallten die Rufe der Hafenarbeiter, deren Gestalten im tief hängenden Dunst unsichtbar blieben. Im Gehen ließ Prue den Blick umherschweifen; niemand, den sie kannte, hatte sich jemals hierher gewagt. Schon jetzt, ganz zu Anfang ihrer Expedition, fühlte sie sich wie die Entdeckerin einer fremden Welt. Unterdessen löste sich der Nebel immer weiter auf. Eingebettet in das Netz von Schotterstraßen lag eine graue Steinvilla, auf deren moosbewachsenem Dach ein Uhrenturm thronte; eine Glocke schlug sechs Mal.
    Nach einer Weile wichen die kastenförmigen Bauten der Industriewüste einem ansteigenden, tiefgrünen Dickicht; Prue machte einen Schritt über die nach Norden führende Abzweigung der Bahngleise und stand unvermittelt zwischen üppigen, kniehohen Farnen. Von da an ging es weiter bergauf zu den ersten Bäumen, die die Grenze zwischen der Außenwelt und der Undurchdringlichen Wildnis bildeten. Prue holte tief Luft, rückte ihre Tasche auf der Schulter zurecht und marschierte in den Wald.

    »Warte!«, rief Curtis. Er hatte sich inzwischen aufgerappelt und taumelte hinter Prue her. »Du gehst da rein? Aber das … das ist die Undurchdringliche Wildnis.«
    Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, stapfte Prue weiter. Der Boden unter ihren Füßen war weich, Scheinbeer- und Farnblätter schlugen ihr gegen die Waden. »Mhm«, sagte sie. »Ich weiß.«
    Curtis fehlten die Worte, während Prue unbeirrt den Hang hinauf Richtung Wald lief. Er verschränkte die Arme und rief: »Aber sie ist undurchdringlich, Prue.«
    Jetzt blieb Prue stehen und sah sich um. »Ich scheine sie ganz gut zu durchdringen«, stellte sie fest und ging weiter.
    Curtis hastete vorwärts, um in Hörweite zu bleiben. »Tja, im Moment vielleicht noch, aber wer weiß, wie es da drin wird. Und diese Bäume …« Er hielt an und begutachtete einen der höheren Stämme von oben bis unten. »Also, ich kann dir sagen, dass die auf mich nicht gerade freundlich wirken.«
    Aber seine Warnung hatte keine Wirkung auf Prue, die immer weiter den Hang hochwanderte und sich dabei an den Baumstämmen abstützte.
    »Und Kojoten, Prue!«, fuhr Curtis fort. Er kletterte ihr nach, machte aber beim

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