Wildwood
ersten Baum der Grenze Halt. »Die reißen dich in Stücke! Es muss einen anderen Weg geben!«
»Gibt es aber nicht«, sagte Prue. »Mein Bruder ist hier irgendwo, und ich muss ihn finden.«
Curtis war geschockt. »Du glaubst, er ist hier drin?« Inzwischen war Prue so tief in den Wald vorgedrungen, dass Curtis selbst ihren roten Schal kaum noch zwischen dem Gestrüpp ausmachen konnte. Kurz bevor sie vollständig aus seiner Sicht verschwand, atmete Curtis tief durch und trat zwischen die Bäume. »Okay, Prue! Ich helfe dir, deinen Bruder zu finden«, rief er.
Prue blieb stehen und lehnte sich an eine Tanne, um ihre grüne Umgebung zu betrachten. Grün, so weit das Auge reichte. Sämtliche vorstellbaren Schattierungen lagen über der Landschaft: das leuchtende Smaragdgrün der Farne und das fahle Olivgrün der herabhängenden Flechten und das vornehme Graugrün der Tannenzweige.
Am Himmel stieg die Sonne inzwischen höher und strömte durch die Lücken des dichten Laubs. Prue warf einen Blick auf Curtis, der hinter ihr den Hang hinaufkeuchte, und lief weiter.
»Wow«, sagte Curtis nach Luft schnappend, »das glauben die anderen in der Schule niemals. Ich meine, noch nie war irgendjemand in der Undurchdringlichen Wildnis. Zumindest soviel ich weiß. Das ist der Hammer! Sieh dir nur diese Bäume an, sie sind so … so … hoch!«
»Nicht so laut, Curtis, wenn’s geht«, sagte Prue endlich. »Wir wollen ja schließlich nicht die ganze Wildnis auf uns aufmerksam machen. Wer weiß, was da alles lauert?«
Curtis blieb wie angewurzelt stehen und sperrte den Mund auf.
»Du hast ›wir‹ gesagt, Prue!«, brüllte er, dann fing er sich und wiederholte in einem heiseren Flüsterton: »Du hast ›wir‹ gesagt!«
Prue verdrehte die Augen und hielt Curtis den Zeigefinger unter die Nase. »Mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig. Aber wenn du schon unbedingt mitkommen musst, dann halt dich gefälligst dicht bei mir. Mein Bruder ist unter meiner Aufsicht verschwunden, und ich will nicht auch noch einen nervenden Klassenkameraden verlieren. Ist das klar?«
»Klar wie …«, setzte Curtis an. Dann fiel ihm Prues Anweisung wieder ein. Er schnitt eine Grimasse und murmelte den Rest: »… wie Kloßbrühe .« Er hob die Hand an die Stirn, offenbar als eine Art Salut. Allerdings sah er dabei eher so aus, als würde er eine Augenverletzung betasten.
Eine Zeit lang liefen sie schweigend weiter. Irgendwann tat sich links von ihnen eine tiefe Schlucht zwischen den Bäumen auf, und sie schlitterten auf dem bemoosten, lehmigen Waldboden die Böschung hinab. Dort unten wuchsen keine Bäume, nur niedrige Farnbüschel und Sträucher, und ein kleines Rinnsal hatte ein schmales Bachbett in den Talboden gegraben. Hier kamen sie besser voran, obwohl sie hin und wieder unter einem der umgestürzten Bäume hindurchkrabbeln mussten, die kreuz und quer in der Schlucht lagen. Das Sonnenlicht sprenkelte den Boden in verschwommenen Mustern, und die Luft fühlte sich auf Prues Wangen rein und unberührt an. Sie staunte über die Erhabenheit dieses Ortes, und mit jedem Schritt
in dieser unglaublichen Wildnis verblassten ihre Ängste. Oben in den hohen Bäumen über der Schlucht sangen die Vögel, und immer wieder sah sie plötzlich ein Eichhörnchen oder ein Streifenhörnchen durch das Unterholz huschen. Prue konnte kaum fassen, dass sich noch nie jemand so weit in die Undurchdringliche Wildnis vorgewagt hatte; sie empfand sie als einladend und heiter, voller Leben und Schönheit.
Nach einer Weile wurde Prue von Curtis aus ihren Gedanken gerissen. »Also, was ist der Plan?«, flüsterte er.
Sie hielt an. »Was?«
Etwas lauter sagte er: »Ich hab gefragt, was der Plan ist?«
»Du brauchst nicht zu flüstern.«
Curtis sah sie verblüfft an. »Ach so«, sagte er mit normaler Stimme. »Ich dachte, wir sollen nicht so laut sprechen.«
»Ja, das schon, aber deshalb musst du nicht gleich flüstern.« Sie sah sich um. »Ich weiß sowieso nicht genau, wovor wir uns verstecken.«
»Kojoten vielleicht?«
»Ich glaube, Kojoten kommen nur nachts raus«, meinte Prue.
»Stimmt, das habe ich gelesen. Glaubst du, wir sind fertig, bevor es dunkel wird?«
»Das hoffe ich.«
»Wo denkst du denn, dass dein Bruder ist?«
Eine einfache Frage, die Prue alle Farbe aus dem Gesicht weichen
ließ. Langsam dämmerte ihr, dass die Suche nach Mac vielleicht schwieriger werden würde als anfänglich gedacht. Bei näherer Überlegung … Hatte sie überhaupt darüber
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