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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
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Schusslinie.
    »HAU AB, Curtis!«, rief Prue. Sie ging in die Hocke und suchte nach dem nächsten Geschoss. Doch dann hielt sie plötzlich inne. Der Boden unter ihr erbebte. Die Steine begannen zu rattern, die Brücke
stieß ein langes, zitterndes Seufzen aus. Prue blickte zu Curtis auf, der zur Salzsäule erstarrt zwischen den Schienen stand. Sie sahen einander mit aufgerissenen Augen an, während die Erschütterungen immer stärker wurden und die Eisenträger des Brückenfachwerks unwillig ächzten.
    »ZUG!«, brüllte Prue.

VIER
Der Übergang
    P rue konnte nur einen kurzen Blick auf den Zug erhaschen. Es war zwar kein langer Zug, aber er schnaufte in recht zügigem Tempo jene Steigung hinauf, die sie und Curtis erst vor wenigen Minuten erklommen hatten. Prue stürmte zu ihrem Fahrrad, knallte es zwischen die Schienen und schwang sich auf den Sattel. Sie trat so heftig in die Pedale, dass der Hinterreifen auf dem losen Kies durchdrehte.
    »Warte auf mich!«, schrie Curtis hinter ihr.
    Das Gestänge der Brücke wogte und ratterte jetzt unter dem
Gewicht der nahenden Lokomotive. Prue war bereits in Bewegung und blickte hastig über die Schulter, um den Abstand zwischen ihrem Rad und dem Zug abzuschätzen. Sie sah, wie das eiserne Gesicht der Lok gerade den Nebel durchbrach und wie Curtis vor dieser unheilvollen Kulisse mit panisch kreisenden Armen hinter ihr her rannte. Der Fahrradrahmen wurde von jeder Holzschwelle, die sie überquerte, hart zusammengestaucht, und Prue musste den Blick fest auf den Boden vor sich richten, um auf dem holprigen Untergrund das Gleichgewicht halten zu können. Der rote Anhänger hüpfte von Schwelle zu Schwelle und drohte bei jedem Pedaltritt umzukippen. »Spring hinten rein!«, brüllte sie Curtis über das ohrenbetäubende Zischen des Zuges hinweg zu.
    »Ich kann nicht! Du bist zu schnell!«, schrie Curtis.
    Prue unterdrückte ein Fluchen und bremste so ruckartig, dass der Hinterreifen auf dem Kies schlingerte. Der Zug hatte jetzt den mittleren Brückenabschnitt erreicht und ließ ein Stakkato schriller Pfeiftöne erklingen, während die Gleise unter seiner Last ächzten. Mit einem Hechtsprung warf Curtis sich in den Anhänger und landete mit einem dumpfen UFF! auf dem Metallboden. Hektisch klammerte er sich an die Seitenwände und brüllte: »Gib Gas!«, und Prue trat wieder in die Pedale, dass der Kies hinter ihr nur so spritzte.

    Als das Ende der Brücke in Sicht kam, gewann Prue durch das sanfte Gefälle so sehr an Fahrt, dass das Fahrrad jedes Mal wild sprang und schleuderte, wenn die Reifen über die Holzschwellen donnerten. Dank Curtis’ zappelndem Körper blieb der Anhänger dicht am Boden, obwohl Prue sich mächtig ins Zeug legte, um ihren Schwung beizubehalten. Der Zug hinter ihnen wurde immer lauter. Sie konnte sich nicht überwinden, einen Blick zu riskieren; ihre Augen waren unverwandt auf das gegenüberliegende Flussufer gerichtet, wo sich die Gleise auf der Höhe einer dichten, dunkelgrünen Baumgruppe zu einem Y teilten.
    »Halt dich fest, Curtis!«, schrie sie gegen den Lärm an, als sie endlich den Punkt erreichte, an dem die Gleise von der Brücke weg in beide Richtungen auseinanderliefen. Sie trat mit dem rechten Fuß das Pedal nach unten und zog den Vorderreifen mit einem Hopser über die Schiene in das tiefe, lockere Kiesbett, das am Ende der Brücke von den Gleisen zu einem Graben abfiel. Mit einem heftigen Ruck flog das Fahrrad samt Anhänger nach vorne und schleuderte
beide Passagiere über den Lenker hinweg in ein trockenes Gestrüpp auf der anderen Seite des Grabens. Kreischend ratterte der Zug vorbei; die Stahlschienen heulten auf, als die schwere Lok weiter nach Süden in die Wolkenbank rollte.
    Prue lag flach auf dem kalten Boden und keuchte laut. Sämtliche Gliedmaßen fühlten sich an wie elektrisch geladen. Sie schob sich auf die Knie, spuckte aus und wischte sich Erde von der Wange. Dann sah sie sich um: Unmittelbar hinter dem nicht sehr tiefen Graben, in dem sie kauerte, lag die Industriewüste mit ihren seltsam imposanten Gebäuden; jenseits davon stieg der erste steile Hügel an, dicht bedeckt von schwindelerregend hoch aufragenden Bäumen. Das Grenzgebiet zur Undurchdringlichen Wildnis. Prue schauderte. Da hörte sie neben sich ein Grummeln und wandte den Kopf: Curtis krabbelte gerade mühsam auf die Knie und rieb sich den Nacken.
    »Aua«, sagte er. Mit einem klagenden Blick auf Prue wiederholte er: »Aua.«
    »Tja, du hättest mir eben nicht

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