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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
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aus als die zerlumpten Sachen der Soldaten vom Vortag: Sie war dunkelblau und wurde mit Messingknöpfen geschlossen. Auf den Schultern prangten Epauletten, und die Ärmel mündeten in hellroten, mit goldenen Biesen verzierten Aufschlägen. Die Brust der Jacke war mit wichtig aussehenden Orden und Abzeichen geschmückt. Über einen der dürren Arme der Kleiderpuppe war außerdem ein breiter schwarzer Ledergürtel geschlungen, an dem eine mit bunten Steinen besetzte Scheide hing; darin steckte ein Säbel mit golden funkelndem Heft und ebenfalls mit Steinen besetztem
Knauf. Eine schmal zulaufende dunkle Hose mit silbernen Paspeln umhüllte die Beine der Puppe.
    Curtis starrte das Ensemble verblüfft an. »Für mich?«, fragte er. Diese Überraschung traf ihn wie ein Schlag, und sein Magen rebellierte. Der Kojote nickte und zog die Uniform von der Kleiderpuppe. Dann schüttelte er sie an den Schultern aus, dass die Orden klimperten, und wartete geduldig, bis Curtis aufstand.
    Der Boden fühlte sich wackelig unter seinen Füßen an, und Curtis musste sich an der Armlehne des Throns abstützen. Ein leichter Kopfschmerz pochte in seinem Schädel, und ihm kam der Gedanke, dass das eine Nachwirkung des Gebräus sein könnte, das die Gouverneurin ihm am Vorabend serviert hatte. Seine Zunge fühlte sich an, als wäre sie mit einer Feile bearbeitet worden. All das wurde allerdings zweitrangig, als ihm langsam dämmerte, in welcher Situation er sich hier befand.
    »Warum soll ich die anziehen?«, fragte er mit einem misstrauischen Blick auf die Uniform. Zu Hause hatte er ein Poster von der Uniform eines britischen Husaren aus dem Krimkrieg über seinem Bett. Die Aussicht, so etwas selbst zu tragen, war irgendwie irrsinnig aufregend.
    »Das müssen Sie sie schon selbst fragen«, erwiderte der Kojote leicht gereizt. »Ich tue nur, was man mir sagt.«
    Curtis war noch immer misstrauisch. »Aber ich muss doch wohl gegen niemanden kämpfen, oder?« Vor seinem geistigen Auge sah
er sich schon in einem Handgemenge mit irgendeinem Grobian aus dem Kojotenbau. In Filmen und Comics passierte so etwas ständig. »Das kann ich nämlich nicht. Ich bin Pazifist«, sagte er. Ein jüngerer und sanftmütiger Freund von ihm, Timothy Emerson, hatte diese Ausrede einmal benutzt, um zu erklären, warum er sich nicht wehrte, als ein paar ältere Kinder ihn während der Pause vom Klettergerüst geschubst hatten. Damals hatte sich das beeindruckend angehört.
    Der Kojote erwiderte nichts. Erneut schüttelte er die Uniform.
    »Das ist wirklich ein hübscher Säbel«, gab Curtis bewundernd zu. »Darf ich ihn mal ansehen?«
    Der Kojote legte die Jacke auf das Podest, zog die Waffe aus der Scheide und überreichte sie Curtis souverän und gelassen mit dem Heft voran. Curtis schwang sie hoch in die Luft – sie war schwerer, als er gedacht hatte. Die Klinge hatte etwa die Länge seines Unterarms und war aus poliertem Silberstahl. Als er damit eine Acht in die Luft schrieb, spiegelte sich das Licht aus den glimmenden Feuerschalen in dem Metall. Obwohl es sich völlig fremd anfühlte, löste das Gewicht des Säbels eine wahre Flut an Fantasien in ihm aus – in diesem Moment war er nicht mehr Curtis Mehlberg, Sohn von Lydia und David, wohnhaft in Portland, Oregon, der Comicfan und verschmähte Einzelgänger; er war Taran mit dem Zauberkessel, er war der Offiziersheld Sir Harry Flashman. Er befühlte das Heft in seiner Hand und kniff die Augen zusammen. »Alles klar«, sagte er. »Helfen Sie mir in die Uniform.«

ACHT
Wie man einen Attaché erwischt
    D ie vergleichsweise ruhige Atmosphäre vor dem Gebäude fand ein schlagartiges Ende, als zwei livrierte Bedienstete die Flügeltür aufstießen und Prue und Richard ins Foyer der Villa brachten. Dort blieben beide wie angewurzelt stehen. Die Eingangshalle glich einem Hexenkessel. Ein Meer von Gestalten – tierische und menschliche – belagerte die große Haupthalle des Gebäudes; manche steckten die Köpfe zusammen und führten hitzige Gespräche, andere flitzten in alle Richtungen über das Schachbrettmuster des Marmorbodens. Es klang, als würden eine Million
Stimmen durch die Luft hallen, und Prue wurde ganz schwindlig bei dem Versuch, sie auseinanderzuhalten. Jeder der Anwesenden, vorwiegend in schwarzem Anzug und Krawatte, trug ein Papierbündel unter dem Arm und war flankiert von anderen, ähnlich gekleideten Leuten, die verzweifelt bemüht waren, mit der ganzen Meute Schritt zu halten. Das einzige

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