Wildwood
verbliebenen Morgentau
in einen kristallenen Glanz gehüllt. Ein paar Vögel zwitscherten. Richard drückte seine mittlerweile dritte Zigarre im überquellenden Aschenbecher aus und winkte den zwei bewaffneten Wachposten, die zu beiden Seiten des Eichentores standen. Sie kamen zum Wagen und spähten durch die Scheibe. Als sie Prue entdeckten, weiteten ihre Augen sich, und Richard kurbelte das Fenster hinunter.
»Eine Außenweltlerin«, erklärte er müde. »Ich bringe sie zum Gouverneurregenten.«
»Haben wir schon gehört«, antwortete einer der beiden, ein älterer Mann. Sein grauer Bart stach zwischen den Kinnriemen eines Blechhelms hervor, der große Ähnlichkeit mit einem umgedrehten Suppenteller hatte. »Die Vögel haben uns so was gezwitschert. Ihr könnt passieren.« Der andere Wachmann war jünger und wirkte über Prues Anwesenheit noch entsetzter. Als die Eichenflügel des Tors schwerfällig aufschwangen und Richard unter dem breiten Steinbogen hindurchfuhr, sah Prue im Außenspiegel den jungen Mann wie gelähmt mitten auf der Straße stehen und dem Lieferwagen nachstarren. Sein prüfender Blick machte sie etwas nervös; sie fühlte sich wie ein Insekt unter einer Lupe. Deshalb wandte sie ihre Aufmerksamkeit lieber wieder der Straße zu, die sich hinter der Flügeltür verbreiterte.
»Südwald«, sagte Richard. »Endlich zu Hause.«
Der Wald hier unterschied sich völlig von dem wilden Gestrüpp und den krummen, hoch aufragenden Bäumen von Wildwald: Prue
entdeckte eigenartige Konstruktionen am Wegesrand, offenbar bescheidene Häuser und Gebäude. Einige standen in deutlichem Abstand zu den Bäumen und waren aus Bruchstein und Ziegeln gebaut, während manche aus den Stämmen selbst zu wachsen schienen und mit Zweigen und Moosschichten verkleidet waren. Wieder andere sprossen wie Erdhöhlen aus dem Boden und hatten bunte Holztüren und kleine Bullaugenfenster und schiefe Blechschornsteine, aus denen Rauchfahnen über die Dachtraufen wehten. Die höheren Äste der Bäume waren durch zahlreiche Stege und Brücken miteinander verbunden, und als Prue den Hals reckte, sah sie, dass sie zu weiteren Häusern, Hütten und Schuppen in den Wipfeln führten. Menschen kamen und gingen aus den Gebäuden und bevölkerten die Wege und Eingänge – aber nicht nur Menschen: auch Tiere. Rehe und Dachse, Hasen und Maulwürfe spazierten in dieser wundersamen Welt umher. Weitere Straßen tauchten auf und kreuzten die Lange Straße: Seitenwege, Gassen und Ausfallstraßen, manche mit Steinplatten und Backsteinen gepflastert, andere mit Kies und Erde aufgeschüttet und nach dem vorangegangenen Regen von Pfützen übersät.
Die Lange Straße selbst wurde nach einer Weile zu einer prächtigen Allee, in deren Pflastersteine sich feine, uralte Furchen eingegraben hatten. Zu beiden Seiten erhoben sich nun großzügige Wohnhäuser, mehrstöckige Bauten aus strahlend weißem Granit und tiefrotem Backstein mit eleganten Säulen und Flügelfenstern.
Manche der Häuser waren offenbar um Bäume herum gebaut worden, sodass imposante Zedernstämme mitten aus den Dächern oder seitlich aus den Wänden herausragten. Im Gegensatz zur klaren, frischen Luft von Wildwald hing hier der beißende Geruch von brennender Kohle und Ruß in der Luft. Und der Verkehr war sogar so dicht, dass er sich staute: Stotternde Autos und zerbeulte alte Motorroller drängten sich neben Radfahrern, Fußgängern und klapprigen, alten Ochsen-, Pferde – und Maultierkarren – deren Zugtiere sich buchstäblich über ihre Last beschwerten.
»Das ist unglaublich«, murmelte Prue endlich. Inzwischen hatte sie sich von dem Schock etwas erholt, den Wald zum Leben erwachen zu sehen. »Ich kann gar nicht fassen, dass es all das hier die ganze Zeit gab und ich nichts davon wusste.«
Richard, den Arm ins heruntergekurbelte Fenster gelegt, beschimpfte gerade einen wackligen Radfahrer, der ihn geschnitten hatte. Dann sah er Prue von der Seite an und lächelte. »Tja, so ist das. Südwald in all seiner Pracht. Ein bisschen üppig für meinen Geschmack. Die Ruhe in Nordwald gefällt mir besser. Landbevölkerung. Die einfachen Dinge.«
Der Straßenabschnitt, auf dem sie sich gerade befanden, führte über eine Hügelflanke zu einer klobigen Steinbrücke und über einen rauschenden Bach hinweg; dahinter wand er sich in Serpentinen einen weiteren Hang hinauf, der von den Holz- und Steinfassaden knallbunter Gebäude mit ihren noch bunteren Schildern gesäumt
war, die Cafés und
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