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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
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Wagen näherte. »Jenkins! Sorgum! Bitte sorgt dafür, dass diese Kiste da unversehrt in mein Quartier gebracht wird.« Umgehend ertönte das Schaben von Holz auf dem Metallboden des Laderaums.
    »Wunderbar«, sagte der Grenzer. »Vielen Dank. Und entschuldigen Sie noch mal die Unannehmlichkeiten.«
    »Nicht der Rede wert«, entgegnete Richard. Wieder wackelte der
Transporter, als die beiden Männer herausstiegen, und dann wurden auch schon – peng – die Türen zugeschlagen. Jemand – Prue glaubte, es musste Richard sein – klopfte ein paar Mal mit den Fingerknöcheln auf das Metall, und sie verzog den Mund zu einem breiten Lächeln.
    Der Motor sprang dröhnend an, und mit knirschendem Getriebe polterte der Lieferwagen über die Grenze ins Vogelfürstentum.
    Nach einer Weile bog das Postauto scharf ab und fuhr über einen holprigen Straßenabschnitt, dann rollte es langsam aus. Geräuschvoll öffneten sich die Türen, und Prue wurde vom Klang eines Brecheisens begrüßt. Im Nu war der Deckel ihrer Kiste beiseitegeworfen, und Prue linste vorsichtig hinaus. Da stand Richard und grinste sie an, das runzlige Gesicht vom trüben Schein der Innenbeleuchtung erhellt.
    »Trocknerflusen? Unterwäsche?«, sprudelte es aus Prue heraus wie Wasser, das durch einen Damm bricht. Doch im selben Moment musste sie auch schon lachen.
    »Ach, Prue.« Richard verzog verlegen das Gesicht. »Ich weiß nicht, was mich da geritten hat! Während der ganzen Vorbereitung hatte ich mir überhaupt keine Gedanken gemacht, was angeblich in der Kiste sein sollte. Unterwäsche, also wirklich! Dem Himmel sei Dank, dass ich noch das Klatschmohnbier aus dem Norden hatte – sehr beliebt, aber in Südwald verboten. Kein anständiger Soldat würde sich so einen Schatz durch die Lappen gehen lassen!«
    Prue sprang auf und warf die Hände um Richards Nacken. »Oh danke, danke, danke!«, rief sie.
    Richard erwiderte die Umarmung kurz, dann sagte er: »Komm schon, du hast noch einen weiten Weg vor dir.« Damit half er ihr aus der Kiste, und sie wischte sich die Jeans ab und ging zur Tür. Sie befanden sich in einer Art natürlicher Sackgasse, umgeben von dichten Brombeer- und Haselnusssträuchern. Das Licht war von einem tiefen Blaugrau, da der erste Schimmer der Morgendämmerung durch die Bäume sickerte. Überall erklang Vogelzwitschern; es regnete geradezu aus den Wipfeln. Das Flattern von Flügeln kündigte Envers Ankunft an, und schon landete er auf einem Ast.
    »Enver!«, rief Prue. »Wir haben es geschafft!«

    Er nickte. »Und keine Sekunde zu früh. Sie haben die Grenze für alle Reisenden geschlossen.« Enver blickte in den Himmel hinauf, die taufeuchte Morgenluft zauste seine Federn. »Er sollte jeden Moment hier sein.«
    »Wer denn?«, fragte Richard.
    »Der General«, antwortete Enver. Und als wären seine Worte eine Beschwörung gewesen, tauchte ein riesiger Vogel auf. Seine Flügelschläge wirbelten das Laub auf wie ein kleiner Hurrikan. Es war ein Steinadler, und Prue erkannte ihn als denselben, den sie bereits auf ihrem Weg nach Südwald an der Grenze gesehen hatte. Mit großer Geste ließ er sich auf einem tief hängenden Tannenzweig nieder, wodurch er den gesamten Baum zum Schwanken brachte.
    »Herr General.« Enver neigte leicht den Kopf.
    Der Adler balancierte auf dem Ast und musterte Prue durchdringend. »Ist das hier das Menschenmädchen? Die Außenweltlerin?«
    »Ja, Herr General«, antwortete Enver.
    »Hallo, Herr General«, sagte Prue. »Wir sind uns schon einmal begegnet, glaube ich. Sie …«
    Der Adler fiel ihr ins Wort. »Ja, ich erinnere mich.« Er rutschte mit seinen gewaltigen Krallen auf dem Ast herum, dass die Tannennadeln erzitterten. »Du warst beim Kronprinzen, als er verhaftet wurde?«
    Prue nickte traurig. »Ja.«

    Der General betrachtete sie schweigend. Das Licht war immer noch grau und die Luft dunstig; das goldbraune Gefieder des großen Vogels bildete einen starken Kontrast zu all dem Grün um ihn herum. Er kratzte sich kurz mit dem Schnabel an der Unterseite seines Flügels, dann richtete er die gelben Augen wieder auf Prue.
    »Er war wirklich tapfer, Herr General«, erzählte sie leise. »Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll; ich schulde ihm wohl mein Leben. Sie kamen meinetwegen, nicht seinetwegen. Und er hat mich beschützt. Warum weiß ich nicht, aber er hat es getan.«
    Endlich wandte der Adler seinen durchdringenden Blick von Prue ab und starrte in die Ferne; seine Miene verriet keine Gefühle.

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