Wildwood
»Als General der Vogelarmee habe ich dem Thron des Kronprinzen die Treue geschworen. Meine Befehle erhielt ich direkt von unserem Monarchen. Und nun ist er fort; im Gefängnis. In seiner Abwesenheit kann ich nur schlussfolgern, was der Kronprinz verfügen würde.« An dieser Stelle blickte er Prue wieder an, und eine eiserne Entschlossenheit trat auf seine gefiederte Stirn. »Wenn er dich beschützt hat, dann muss ich dich auch beschützen. Wenn er sein Leben für dich riskiert hat, dann gebietet mir meine Pflicht, dasselbe zu tun.«
Enver zwitscherte zustimmend. Der General breitete seine gewaltigen Flügel aus – deren Spannweite mindestens so breit war wie Prue groß – und hüpfte elegant von seinem Ast vor Prue auf den Boden.
»Wenn es dein Wunsch ist, nach Nordwald zu gelangen, dann wäre es mir eine Ehre, dich zu fliegen«, sagte der General mit einer tiefen Verbeugung.
Sprachlos machte Prue einen unbeholfenen Knicks. Dann drehte sie sich zu Richard um und streckte ihm die Hand entgegen. Er schüttelte sie fest mit ernst gerunzelter Stirn. »Noch ein Abschied zwischen uns, Portland-Prue«, sagte er. »Hoffen wir, es ist der letzte.«
Sie lächelte. »Nochmals danke, Richard. Ich werde das nie vergessen.« Sie wandte sich an Enver. »Und du«, sagte sie und strich ihm mit dem Finger über das glatte Köpfchen. »Du bist der beste Diener, den ein Kronprinz sich wünschen könnte. Ich bin sicher, er wäre sehr stolz auf dich, wenn er jetzt hier wäre.«
Enver gurrte und trippelte scheu auf seinem Platz herum.
Schließlich atmete Prue tief durch und sprach den General an, der den Kopf immer noch verneigt hielt. »Also gut«, sagte sie. »Machen wir uns auf den Weg.« Der Adler drehte sich herum, sodass Prue auf seinen Rücken klettern konnte. Ihre Finger rutschten durch die Daunen seines Gefieders und fanden in der Schulterbeuge Halt. Sie spürte, wie sich die Sehne seines Muskels straffte, als er die Flügel in Vorbereitung auf den Flug ausbreitete.
»Festhalten«, sagte er.
Prue presste ihren Körper an den Rücken des Generals, die Wange in seine weichen Federn geschmiegt, während er ein paar
flinke Schritte machte, ehe er vom Boden abhob. Und dann flogen sie.
Curtis hatte seit seiner schicksalhaften Entscheidung, Prue in die Undurchdringliche Wildnis zu folgen, ja schon so einige seltsame Situationen erlebt, aber mit Sicherheit war keine so schräg gewesen wie diese hier: in einem riesigen Vogelkäfig zu sitzen, der in einem unterirdischen Bau an einer Wurzel baumelte, und zu versuchen, sich an den Text zu »Mustang Sally« zu erinnern.
Mustang Sally
Guess you better slow that mustang down
Mustang Sally
Guess you better slow that mustang down
One of these dingsda … dingsda mornings
La, la, la, irgendwas mit Augen.
»Irgendwas mit Augen?«, fragte Seamus ungläubig. »Was soll das denn heißen?«
»Nein, nein, nein.« Curtis kratzte sich am Kopf. »Ich hab vergessen, wie es weitergeht. Aber es ist irgendwas mit Augen. Schlafende Augen? Oh je, tut mir echt leid, Jungs. Ich dachte, ich kann den Text.« Es war eines der Lieblingslieder seiner Eltern und ein Mitsingklassiker auf Autofahrten mit der Familie. Angestrengt durchwühlte
er sein Popsong-Repertoire, um sich für die letzte Darbietung der Räuber zu revanchieren, ein klangvolles Lied über einen Zigeuner, der die Tochter eines Fürsten entführt. Seit Stunden sangen sie einander nun abwechselnd vor, und die Zeit verging wie im Flug. Die ganze Höhle hallte von den Stimmen der Gefangenen wider.
»Aber ich bin ein bisschen verwirrt«, sagte Angus. »Ist das ein Pferd, diese Sally? Und trotzdem gibt es noch einen anderen Mustang, den sie bremsen muss?«
Noch ehe Curtis diese Fehldeutung korrigieren konnte, schaltete sich ein anderer Räuber ein. »Angus, du Trottel, es ist eindeutig ein Liebeslied von einem Mann an ein Pferd. Der Mann liebt dieses Tier, diesen Mustang Sally.« Sämtliche Insassen brachen in brüllendes Gelächter aus.
»Hey, Curtis«, rief ein anderer prustend. »Ihr Außenweltler seid echt ziemlich merkwürdig.«
Curtis brüllte gegen die laute Heiterkeit an: »Jungs, es ist ein Auto! Eine Automarke! « Aber die Räuber ließen sich nicht beirren. Statt sich länger dagegen zu wehren, fiel Curtis schließlich in ihr Lachen ein. Einer der Männer, Cormac, übertönte den Lärm. »Noch eins, Curtis! Sing noch ein Außenwelt-Lied!« Doch gerade als Curtis darauf hinweisen wollte, dass eigentlich die Räuber an der
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