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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
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ließ die Baumwipfel hinter sich. Als sie ihre ursprüngliche Flughöhe erneut erreicht hatten, machte Prue plötzlich eine Entdeckung. »Wow!«, rief sie.
    »Das Kronprinzennest«, erklärte der General, der sich bereits denken konnte, was Prues Erstaunen erregt hatte.
    Vor ihnen ragte ein einzelner Baum auf, eine majestätische Douglasie, neben der alle anderen Pflanzen in der Umgebung zwergenhaft wirkten. Ihr Stamm hatte selbst in dieser luftigen Höhe den Umfang eines kleinen Hauses – Prue konnte sich kaum vorstellen, wie breit er erst am Boden sein musste! –, und die obersten Zweige schwebten mindestens fünfzehn Meter über dem nächsten Baum. Das Außergewöhnlichste an dieser Douglasie war jedoch die beeindruckende Anordnung von Horsten in ihrem Geäst: Die niedrigeren Ebenen der Baumkrone wurden von einer riesigen Anzahl kleinerer Nester besiedelt, ein jedes von Spatzen oder Finken bewohnt; darüber befanden sich einige größere Behausungen, die das Heim von Falken und Habichten waren – und sie alle führten hinauf zu dem allerhöchsten Zweig: Auf der Spitze des Baums thronte ein einzelnes, riesiges Nest. Es hatte einen Durchmesser von etwa zehn Metern und bestand aus einer bunten Mischung sämtlicher vorstellbarer Pflanzen:
Tannenzweige und Himbeersträucher, Efeuranken und Huflattich, Kapuzinerkresse und Ahornblätter. Das Becken des Nests war mit einer glatten Lehmschicht ausgekleidet, und es sah aus wie das behaglichste Vogelheim, das man sich nur vorstellen konnte – aber leider, leider war es leer.
    »Der Sitz des Kronprinzen«, sagte der Adler feierlich.
    »Was passiert jetzt, wo Uhu Rex fort ist?«, brüllte Prue in den dröhnenden Wind. Sie umkreisten den Wipfel der Douglasie einige Male, ehe sie ihren Flug nach Norden fortsetzten.
    »Sein Horst wird gepflegt und instand gehalten, bis er zurückkehrt. Falls Südwald sich allerdings weigern sollte, ihn freizulassen, gibt es Krieg.« Jetzt holte der Adler mit seinen Schwingen weit aus und beschleunigte, während die Nesterstadt unter ihnen sich in den Bäumen verlor.
    Die Antwort des Generals beunruhigte Prue. »Aber wie wollt ihr zwei Kriege auf einmal führen? Wenn die Kojoten euch weiter von Norden her angreifen?«, fragte sie. »Und was geschieht mit Uhu Rex?«
    »Wir haben keine Wahl, Prue«, gab der Adler zurück. Mit ein paar kräftigen Flügelschlägen stiegen sie noch höher; die dunkelgrüne Decke unter ihnen entfernte sich immer weiter, und Prue hörte ihre Ohren ploppen.
    »Halt Ausschau nach möglichen Gefahren«, wies der General sie an. »Wir überqueren jetzt die Grenze nach Wildwald.«
    Prue blinzelte und suchte die Baumkronen ab; der Wald wirkte
hier wild und ungezähmt, ohne eine einzige Ansiedlung. Etwas weiter unten kämpften Ahorne und Erlen um die Vorherrschaft, umgeben von ihren höheren Nadelverwandten, den Tannen und Zedern. Da sie in dieser wilden Landschaft ungehemmt wachsen konnten, standen die Bäume hier viel dichter. Zudem waren sie nicht die einzigen Pflanzen, die in dieser Höhe nach dem Licht strebten – fantastische Efeuranken hatten die Spitzen mehrerer unglückseliger Ahorne erklommen und es sah fast so aus, als erstickten sie ihre Wirte in dem Versuch, das Blau des Himmels zu erreichen.
    »Ich glaube, die Luft ist rein!«, rief Prue.
    Immer größer und breiter wurden die Bäume, die das Unterholz gänzlich überschatteten und deren im Wind schwankende Wipfel den Himmel zu streifen schienen. Der General war gezwungen, noch höher aufzusteigen, und allmählich spürte Prue, wie ihre Lungen nach Luft rangen. Das dichte Pflanzenmeer unter ihnen dehnte sich schier endlos bis zum Horizont aus; die Weite des Waldes war einfach unermesslich. Plötzlich war die Begeisterung über ihren Flug wie weggeblasen, und Prue empfand eine jähe Hilflosigkeit angesichts ihrer Aufgabe. Als sie jetzt vom Himmel aus die grenzenlose Wildnis unter sich betrachtete, dachte sie zum ersten Mal, dass sie ihren Bruder vielleicht niemals finden würde. Wie um sich zu trösten, klammerte sie sich enger an den Hals des Adlers und vergrub den Kopf in seinen Federn.
    Und so bemerkte sie den Kojotenbogenschützen nicht.

    Sie sah nicht, wie er auf den obersten Ästen einer großen Tanne balancierte und sorgfältig einen Pfeil anlegte. Sie sah nicht, wie er die Sehne straff spannte und dann losließ. Sie hörte allerdings, wie das Geschoss durch die Luft pfiff, und sie spürte das Gewicht des Schafts, als er sein Ziel traf und sich mit

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