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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
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einem abscheulichen Plonk in die Brust des Adlers bohrte. Und sie sah, wie der Pfeil zwischen den Schultern des Generals herausragte, die Metallspitze rot vor Blut und nur Zentimeter von ihrer Wange entfernt.
    »NEIN!«, schrie sie.
    Der General stieß einen einzelnen heiseren Schrei aus, dann war er still. Sein Kopf sank tief auf seine Brust. Die Flügel krümmten sich reflexartig um seinen Körper, und Prue spürte, wie sie in den freien Fall übergingen.
    Völlig unter Schock fummelte Prue an dem Pfeil in seiner Brust herum und versuchte, ihn herauszuziehen – aber er steckte fest. »General!«, rief sie verzweifelt. »Nicht! Nein, nein, nein!«
    Plötzlich spannten seine Flügel sich erneut an, und er schrie unzusammenhängende Proteste in den Himmel. Es gelang ihm, gerade noch so viel zu flattern, um nicht senkrecht auf die Erde zu stürzen. Er streifte die Baumkronen, kippte im Flug heftig hin und her und drohte bei jeder Drehung seinen Passagier abzuwerfen. Doch heldenhaft trug der Adler sie beide noch ein gutes Stück von dem Bogenschützen fort – bis er schließlich nicht mehr konnte. Ein letzter Schrei. Dann erschlafften seine Flügel und er fiel aus der Luft.
    Prue kreischte und schloss die Augen, während sie durch das Geäst krachten. Die Nadeln der Tannen zerkratzten ihr die Haut und schlugen mit der Wucht von tausend Peitschen auf ihre Arme und Beine ein. Um sich vor den Zweigen zu schützen, presste sie ihr Gesicht in das blutfeuchte Gefieder des Adlers und spürte die Reglosigkeit seines Körpers an ihrer Wange. Endlich bremste ein dicker Ast ihre Vorwärtsbewegung, und sie stürzten steil nach unten; Prue und der Adler kreiselten durch das Laub der Bäume, bis sie hart auf dem Boden auftrafen und ein Regen zersplitterter Äste von oben auf sie herabprasselte.
    Prue wurde ein bis zwei Meter vom Adler weggeschleudert, landete aber zum Glück auf den weichen, verfaulten Überresten eines uralten Baumstamms. Ihre Finger und ihr Gesicht brannten; ihre Hände waren übersät von Kratzern und Abschürfungen; ihre Kleider hingen in Fetzen und auf ihrer Jacke breitete sich ein großer, dunkelroter Fleck aus. Das Blut des Generals , dachte sie. Rasch sprang sie auf, um zu ihm zu laufen. Doch da hörte sie etwas in den Bäumen: das unverkennbare Knirschen von Schritten im Unterholz. Prue blieb wie angewurzelt stehen und blickte sich vorsichtig um.
    Langsam, kaum wahrnehmbar verschob sich die dichte Vegetation und ein Kreis menschlicher Gestalten tauchte aus den Bäumen auf. Sie war umzingelt.
    »Rühr dich … nicht … vom Fleck«, befahl jemand.
    Prue erstarrte. Die Männer und Frauen um sie herum trugen ein
ungewöhnliches Sammelsurium an Kleidung: Brigadiersuniformen, kakifarbene Kittel, feine Seidenwesten – und alles in sehr schlechtem Zustand. Die Ellbogen ihrer Jacken waren zerschlissen, die Hemden schmutzig, nichts schien richtig zu passen. Doch viel entscheidender war die Tatsache, dass diese Leute bis an die Zähne bewaffnet waren: mit antiken Pistolen und Gewehren, Schwertern und Jagdmessern. Und alle waren auf Prue gerichtet.
    »Woher bist du gekommen?«, fragte ein Mann.
    Prue hob zaghaft den Arm und deutete gen Himmel.
    Die Fremden waren entgeistert. »Was, du bist geflogen?«, fragte einer.
    Prue nickte. In ihrem Kopf drehte sich alles, und ihr wurde langsam schwarz vor Augen. Ein stechender Schmerz breitete sich in ihrem Brustkorb aus.
    Hinter der Menge ertönte schroff und herrisch eine Stimme. »Was ist hier los?« Ein Mann erschien auf der Lichtung und schob ein paar der Gestalten beiseite. Er hatte einen dunkelroten Bart und trug eine schmutzige Offiziersjacke. Über seiner Schulter hing ein langer Säbel an einer Schärpe, und auf seine Stirn war ein Zeichen tätowiert, das Prue nicht entschlüsseln konnte. Mit finsterer Miene baute er sich vor Prue auf, wobei ihn sein lockiges rotes Haar noch mal um mindestens fünfzehn Zentimeter größer machte. »Wer bist du und woher kommst du?«
    »Ich – ich bin Prue«, brachte sie stockend hervor. »Und ich bin
auf … dem Adler da hinten geflogen, und wir wurden … wir wurden abgeschossen.« Noch während sie diese letzten Worte stammelte, sank sie plötzlich zu Boden.

    Als Prue zu sich kam, war sie in Bewegung. Ein Kaleidoskop von Sonnenlicht und Laub kreiselte über ihr. Sie lag auf dem Rücken, und trotzdem schwebte sie seltsamerweise mit nicht geringer Geschwindigkeit horizontal über den Boden dahin. Sie hob den Kopf an und sah, wie

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