Wildwood
das möglich war: Sie lag auf einer behelfsmäßigen Trage – zwei Äste, zwischen denen ein Seil gewunden war – und wurde nun von diesen merkwürdigen Leuten durch den Wald getragen.
»Der General!«, rief sie und stützte sich auf die Ellbogen hoch. »Der Adler! Wo ist er?«
Hinter ihr sagte eine Frauenstimme: »Er hat es nicht geschafft.«
Prue verdrehte den Hals, um zu sehen, wer gesprochen hatte. »Er ist … tot?«, fragte sie zögerlich. Die Frau nickte, und Prues Magen krampfte sich zusammen. Ein Schmerzensstich schoss ihr von der Brust in den Hals hinauf, und sie fiel wieder zurück auf die Trage und fasste sich an die Rippen. »Aua!«
»Sieht aus, als wärst du ziemlich schlimm gestürzt«, sagte die Frau schwer atmend, da sie und die anderen Träger im Laufschritt durch den Wald rannten.
Der Mann vorne an der Bahre rief über die Schulter: »Nicht bewegen. Wir müssen dich in Sicherheit bringen. Ich hab noch nie
einen Kojotenscharfschützen so weit vom Bau entfernt gesehen. Es könnten noch mehr unterwegs sein.«
Prue wandte den Kopf zur Seite und sah, dass die gesamte Menschenmenge, die sie vorhin umringt hatte, nun auf den Beinen war. Leichtfüßig liefen die Leute durchs Unterholz, fast ohne die Büsche und Farne aufzuwühlen.
»Wer – wer sind Sie?«, fragte Prue. Ihr Mund war trocken; das Sprechen fiel ihr schwer.
»Räuber«, antwortete einer der Läufer. »Wildwald-Räuber. Du hast Glück, dass wir dich gefunden haben.«
»Aha«, sagte Prue. Die Welt verschwamm um sie herum. Nebel legte sich auf ihren Blick und sie verlor wieder das Bewusstsein.
Patsch .
»Hey!«
Patsch .
Die Augen immer noch geschlossen, wurde Prue von einem klatschenden Geräusch aufgeschreckt, als würde jemand geohrfeigt.
Patsch .
Da, schon wieder! , dachte sie. Plötzlich dämmerte ihr, dass jedes Klatschen von einer Empfindung begleitet wurde – dem Gefühl einer Handfläche auf ihrer Wange. Langsam schlug sie die Augen auf und zuckte zusammen: Genau über ihr hing der Mann, den sie schon auf der Lichtung gesehen hatte, der Rotbärtige mit der tätowierten
Stirn. Sein Atem roch ziemlich sauer; seine Hand hatte bereits zum nächsten Schlag ausgeholt.
»Na also«, sagte er zufrieden. »Ich war mir nicht sicher, ob du sterben würdest.«
Prue war geschockt. »Nein, ich sterbe nicht!«, rief sie trotzig. »Ich hab nur … geschlafen oder so.«
»Gut. Außerdem wär es dir vielleicht auch ein bisschen peinlich, an einer geprellten Rippe und einem verstauchten Knöchel zu sterben.«
»Eine geprellte Rippe?«, fragte Prue. »Woher …«
»Ach, diese Südwalder stellen uns Räuber nur zu gern als Ahnungslose hin, aber mit Brüchen und Verstauchungen kennen wir uns aus.« Er dachte einen Moment nach. »Du siehst gar nicht aus wie jemand aus Südwald. Und wie jemand aus Nordwald auch nicht. Du bist aus der Außenwelt, richtig?«
Prue nickte.
Der Räuber setzte sich zurück, und Prue konnte ihre Umgebung in Augenschein nehmen. Offenbar befand sie sich in einer Art Hütte aus unbehandelten Baumstämmen und Brombeergestrüpp. Die Decke bestand aus dichten Tannenzweigen, und ein einfacher, handgewebter Teppich bedeckte den Großteil des Erdbodens. Als sie etwas herumrutschte, merkte Prue, dass sie auf einer groben Matratze aus Leinwand lag.
»Sehr eigenartig«, sagte der Räuber und kaute nachdenklich auf
einer getrockneten Zimtstange herum. »Ich hab vorher in meinem ganzen Leben noch keinen Außenweltler getroffen, und jetzt sehe ich gleich zwei, innerhalb von zwei Tagen.«
Prues Augen weiteten sich. »Zwei? Sie – Sie haben noch einen gesehen?«
»Ja, in einem Gefecht mit den Kojoten. Gestern erst. Ein junger Bursche, wahrscheinlich im gleichen Alter wie du. Hat an der Seite der Gouverneurin gekämpft – und das auch noch gut! Ziemlich gewitzt, der Junge.« Plötzlich fiel dem Räuber etwas ein. »Du bist … du stehst doch wohl nicht im Dienst der Gouverneurin, oder? Hat sie etwa irgendein dunkles Bündnis mit der Außenwelt geschmiedet?« Instinktiv griff seine Hand nach dem Säbel.
»NEIN!«, wehrte Prue heftig ab, woraufhin sich wieder ein Stich durch ihre Rippen bohrte. »Ich schwöre es! Ich hab sie noch nie gesehen. Ich hab nur schreckliche Dinge über sie gehört.«
Der Räuber ließ seine Waffe los. »Ist auch besser so. Böse Frau, diese Gouverneurswitwe.«
»Aber dieser andere Außenweltler, wie sah der denn aus? Mit lockigen schwarzen Haaren? Und … einer Brille?«
Der Räuber
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