Wildwood
eilig weiter; einige Autos zischten leise über den nassen Asphalt, die Scheibenwischer in emsiger Bewegung. Aber trotz ihres ramponierten Aussehens, trotz ihrer zerrissenen Kleidung und ihrer zerzausten Haare schenkte niemand Prue auch nur einen zweiten Blick.
Es dauerte ein Weilchen, bis sie vor ihrer Haustür ankam. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, zuerst bei Curtis vorbeizugehen, um ihn zu fragen, wie es ihm ging und wie er es aus dem Wald geschafft hatte. Dann entschied sie sich aber doch dafür, als Erstes ihr eigenes Zuhause anzusteuern. Sie hoffte, dass ihr plötzliches Wiederauftauchen den unvermeidlichen Schock irgendwie abmildern würde, den ihre Eltern bekämen, wenn sie vom Verschwinden ihres Sohnes erführen. Prue wusste, dass sie die Wahrheit erzählen musste, egal wie verrückt sie auch war.
Im Wohnzimmer brannte eine einzelne trübe Lampe, die kaum ausreichte, um die Düsternis des Nachmittags zu durchdringen und einen schwachen Lichtstrahl auf die Vordertreppe zu werfen. Durch das Fenster konnte Prue auch in die Küche sehen; der Rest des Hauses war dunkel, als zöge eine Wolke darüber hinweg. In der zusammengesunkenen Gestalt auf der Wohnzimmercouch erkannte
sie ihre Mutter, deren lockige Haare so wirr waren wie das wüste Wollknäuel in ihren Händen, auf das sie starrte. Prues Vater war nirgends zu sehen. Sie ließ das Fahrrad fallen und stieg die wenigen Stufen zur Tür hinauf; ihr Knöchel schmerzte jetzt wieder bei jedem Schritt.
»Ich bin wieder da«, rief sie erschöpft in das verdunkelte Haus.
Mit einem Aufschrei sprang ihre Mutter vom Sofa, und das Garn auf ihrem Schoß kullerte zu Boden. Sie rannte zu ihrer Tochter und umschlang sie, wie nur eine Mutter ihr verloren geglaubtes Kind umschlingen kann. Prue quiekte laut auf, als ihre empfindlichen Rippen von den kräftigen Armen gequetscht wurden; vor Schmerz wurde sie beinahe ohnmächtig. Sofort ließ ihre Mutter sie los und legte die Hände sanft um Prues Wangen, um in ihrem Gesicht nach Anzeichen von Verletzungen zu suchen.
»Geht es dir gut?«, fragte sie schließlich.
Prue wand sich in ihrem Griff. »Ja, Mama.« Die Augen ihrer Mutter waren rot und von tiefen, dunklen Ringen umgeben. Sie sah aus, als hätte sie nicht mehr geschlafen, seit Prue weg war.
»Wo … wo ist Mac?«, stammelte ihre Mutter.
In diesem Moment schwappte eine gigantische Woge der Müdigkeit und Verzweiflung über Prue hinweg. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. »Er ist weg«, sagte sie. »Es tut mir leid.«
Ihre Mutter brach in Tränen aus. Prue fiel kraftlos in ihre Arme.
»Das war’s also, ja?« Seamus tigerte in seinem Käfig herum und brachte ihn zum Schaukeln. »Das war’s. Kein Prozess, keine Folter, keine Hinrichtung – nichts. Wir verfaulen hier einfach.« Sie waren jetzt völlig allein in der Höhle, der Wärter und die beiden Wachsoldaten glänzten bereits seit einigen Stunden durch Abwesenheit.
Cormac seufzte. »Scheint so. Aber ich vermute, dass der König die doppelte Packung abkriegt: erst Folter, dann Verfaulen.«
»Widerwärtige Hunde. Die ganze Bande«, zischte Seamus.
Angus meldete sich zu Wort. »Und was hat sie gleich noch gesagt? Sie opfert das Kind wann dem Efeu? An der Tagundnachtgleiche?«
Curtis, die Knie an die Brust gezogen, antwortete: »Genau. Tagundnachtgleiche.«
Nachdenklich rieb sich Angus die Stirn. »Das ist in zwei Tagen, oder? Liebe Götter, viel Zeit bleibt uns nicht mehr.«
»Wir sind erledigt – obwohl wir zumindest noch länger leben werden als unsere Brüder und Schwestern im Lager.« Das kam von Cormac. »Die werden vermutlich vom Efeu völlig überrascht werden. Das gibt ein schnelles Ende.«
»Ja«, sagte Angus. »Ich hab mal unten im Alten Wald ein Nickerchen gemacht, im Tal. Genau auf dem Zeug drauf, dem Efeu meine ich. Keine zwei Stunden später wache ich auf und eine kleine Ranke hat sich komplett um meinen großen Zeh gewickelt, so wahr ich hier stehe.« Er spuckte aus. »Gar nicht dran zu denken, was er anstellt,
wenn er erst mal unter dem Kommando dieser bösen Hexe steht. Berauscht von Kinderblut.«
Bei dieser Vorstellung verzog Curtis das Gesicht.
»Nee, nee, da sind wir schon besser dran, wenn wir hier verhungern, Jungs«, fuhr Cormac fort. »Zumindest sterben wir eines natürlichen Todes und es kriecht uns kein Efeu in die Augäpfel. Wir können nur hoffen, dass die Leute im Lager rechtzeitig Wind davon bekommen und sich in Sicherheit bringen – unter der Erde oder so.«
Seamus
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