WILDWORLD - Die Nacht der Wintersonnenwende: Band 1 (German Edition)
Schreibtisch.
Die Worte tanzten vor ihren Augen. Sie schienen eine verborgene Bedeutung zu enthalten, die sie nicht zu entschlüsseln vermochte. Sie las den Anfang desselben Satzes wieder und wieder und starrte jedes Mal, bevor sie das Ende erreichte, über den Rand der Seite ins Leere. Sie dachte nicht nach, sie starrte nur vor sich hin.
Sie hoffte, dass ihren Geschwistern in der Wildworld etwas Unaussprechliches zustieße. Sie wusste nicht, warum sie das hoffte, aber es schien den kleinen Vulkan in ihrer Brust irgendwie zu besänftigen. Für einige Minuten malte sie sich aus, was genau ihnen widerfahren mochte. Dann, nach einem Blick auf die Schreibtischuhr, der ihr verdeutlichte, dass der Mond inzwischen aufgegangen war, biss sie die Zähne so fest zusammen, dass sie den Schmerz bis in die Schläfen spürte, und wandte sich wieder ihrem Buch zu.
Nach den starken Empfindungen des Tages, nach dem Schmerz und dem Ärger erschöpfte sie das Lesen rasch, und sie beschloss, nur für einen Moment die Augen zu schließen, bevor sie weiterlas.
Sie erwachte mit dem Kopf auf dem Schreibtisch und einem Krampf in den Schultern. Benommen richtete sie sich auf, während sie auf das Geräusch horchte, das sie geweckt hatte. Ein vertrautes Geräusch … ja, die Garagentür wurde geöffnet. Also, warum um alles in der Welt schrillten da sämtliche Alarmglocken in ihr?
Ein einziger Blick auf die Uhr, und sie schoss so schnell vom Stuhl auf, dass sie sich in der Dunkelheit beide Knie anstieß. Zehn nach eins! Und sie hatte Alys und die anderen nicht nach Hause kommen hören!
Es war zwar durchaus möglich, dass sie heimgekommen waren, ohne sie zu wecken, aber … Einen Moment später hatte sie die Tür zu Claudias Zimmer aufgerissen und sah ein leeres Bett vor sich.
Unten drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Ihre Eltern würden nicht nach Charles oder Alys sehen, aber Claudia war nun mal die Kleinste, und so würde einer von ihnen gewiss einen Blick in ihr Zimmer werfen, bevor er zu Bett ging.
Janie sah sich hektisch im Raum um, dann riss sie die Tür zu Claudias Schrank auf. Auf dem Boden lag ein Durcheinander von Plüschtieren und Spielzeugen, darunter eine uralte, zerbeulte Puppe, die fast einen Meter groß war. Ihr Plastikgesicht war eingedrückt, und eines ihrer blauen Augen rollte schauerlich lose in ihrem Kopf herum, aber sie hatte ebenso mausbraunes Haar wie Claudia. Janie stopfte sie in Claudias Bett, dann legte sie den Kopf der Puppe auf Claudias Kissen und zog die Decken über sie. Sie konnte gerade noch den Lichtschalter betätigen und in den Flur gehen, bevor ihre Eltern an der Treppe erschienen.
» Hallo«, flüsterte ihr Vater. » So spät noch auf?«
Janie, die sich ihrer geröteten Wangen und ihres rasenden Herzens bewusst war, flüsterte zurück: » Ich dachte, ich hätte etwas gehört, also habe ich in Claudias Zimmer geschaut, ob alles in Ordnung ist.«
» Hat Alys sie rechtzeitig ins Bett gebracht?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete ihre Mutter leise Claudias Tür und spähte hinein. Einen Moment später schloss sie sie ebenso leise wieder. » Schläft wie ein Engel.«
» Sie ist ein echtes Püppchen«, stimmte Janie unwillkürlich zu.
» Also, gute Nacht. Geh nicht in deinen Kleidern zu Bett.«
» Nein. Gute Nacht. Nacht, Dad.«
Sobald sie wieder in ihrem eigenen Zimmer war, ließ sie sich aufs Bett fallen und drosch mit den Fäusten auf ihr Kissen ein. Zum Kuckuck mit Alys! War sie verrückt geworden, so lange wegzubleiben? Und Claudia so lange wach zu halten! War sie sich denn gar nicht über die Folgen im Klaren?
Dann hob sie langsam den Kopf aus dem zerwühlten Bettzeug. Natürlich war Alys sich über die Folgen im Klaren. Sie würde niemals absichtlich so lange fortbleiben. Irgendetwas war schiefgegangen.
Janie war noch nie in ihrem Leben eine Regenrinne hinuntergerutscht, und auf halbem Weg nach unten stürzte sie ab. Ihr linker Arm und ihre ganze linke Seite waren wie betäubt. Die Nacht war kalt und kristallklar, und der Halbmond segelte hoch am Himmel, während sie mit dem Fahrrad zu Morganas Haus raste. Schaudernd vor Angst und Kälte, hatte sie den Schmerz schon vergessen, als sie durch die Hintertür eintrat. Unheimliche Stille begrüßte sie.
Sich in diesem dunklen, verlassenen Haus umzuschauen, war fast mehr, als sie ertragen konnte. Im ersten Stock glaubte sie plötzlich, eine Gruppe von Leuten zu sehen, und erschrak so sehr, dass sie sich mit einem Satz in eine Ecke
Weitere Kostenlose Bücher