WILDWORLD - Die Nacht der Wintersonnenwende: Band 1 (German Edition)
Charles zu und drückte Claudia noch fester an sich. » Wenn irgendetwas sie ablenkt – nur für eine Sekunde –, dann …«
Aber es würde sie nichts ablenken, das wusste sie. Alle Hoffnung auf Hilfe war vergeblich. Es gab nichts in dieser Welt, das nicht feindselig gewesen wäre, und sie, Alys, hatte sie hierhergebracht, und sie allein trug dafür die Verantwortung.
Das war fast das Schlimmste. Nicht die Furcht, obwohl der Graue Stab ihr höllische Angst einjagte. Nicht die Ungewissheit oder die Hilflosigkeit. Sondern das Wissen, dass das, was ihnen jetzt zustoßen würde, ihre Schuld war.
» Verzeih mir, Claudia«, flüsterte sie.
In diesem Moment regte sich auf der Treppe zwischen den Säulen etwas.
» Janie?« Für einen Augenblick glaubte Alys, ihre gequälten Augen spielten ihr einen Streich. Aber es war Janie, es waren Tausende von Janies, eine Armee von Janies, die über die Treppe herabfluteten wie ein Wasserfall. Sie hatten die Größe eines Schulmädchens und die Größe einer Stecknadel und alle Größen dazwischen, und sie schwangen Waffen, die wie Schüreisen aussahen. Alys’ Beine gaben nach und der Unterkiefer klappte ihr herunter.
Die Janies strömten in endloser Zahl die Treppe herab. Und dann waren da Janies, die mit erhobenen Schüreisen auf Aric losgingen, und Janies, die sich auf die anderen Magyr stürzten, und Janies, die wild um sich schlugen. Sobald eine Janie zu Boden fiel, traten ein Dutzend neue an ihre Stelle.
Die vergessenen Feuerlinien schrumpften in sich zusammen und Charles und Claudia waren frei und liefen los. Alys erhob sich und torkelte hinter ihnen her. Doch die Magyr gaben sich nicht geschlagen. Noch während sie kämpften, stellten sie sich so, dass sie sämtliche Ausgänge zum Flur bewachen konnten – bis auf einen, den sie übersehen haben mussten.
» Lauft zu einem Spiegel!«, riefen die Janies. Allerdings nicht aus einem Munde. Einige von ihnen riefen kurz vor den anderen, einige kamen später zum Ende wie bei einem Kanon oder einem schlechten Chor. » L-L-L-Lau-auft zu einem Spiegel-iegel-iegel-l-l«, riefen sie.
Von allen Seiten abgeschirmt durch die unzähligen Janies, schoben Alys und die anderen sich durch den Spiegel hinter dem Podest. In letzter Sekunde drehte sich Alys zu derjenigen Janie um, die ihr am nächsten stand; diese Janie war kleiner als die meisten und von einer regenbogenfarbigen Silhouette. » Aber du …«
» Komme-komme-komme-komme!«, schallte es durch die große Halle, und Alys stürzte sich nach vorn.
In der menschlichen Welt zirpte eine Grille.
» Wo ist Janie?«, rief Charles, während er sich von Claudia löste.
Da ertönte hinter ihnen eine Stimme. Eine einzelne Stimme. » Ich bin in Morganas Schlafzimmer.«
Sie liefen zu ihr.
» Wie hast du das gemacht?«, fragten sie im Chor.
Janie stand mit zerwühltem Haar da, in der Hand ein Schüreisen. Sie taumelte.
» Man nimmt – die Eigenschaften des Spiegels an, durch den man geht«, erklärte sie atemlos. » Wie bei dem – angelaufenen, dunklen Spiegel«, fügte sie hinzu, als sie in verständnislose Mienen blickte. » Ganz einf…« Sie schwankte und wäre beinahe hingefallen, hätte Charles sie nicht aufgefangen.
» Aber …«
» Schattenspiegel machen euch zu Schatten. Also machen vielfache Spiegelbilder …« Sie zeigte auf die beiden bis zum Boden reichenden Spiegel in den einander gegenüberliegenden Nischen, und in den Spiegeln gestikulierten zahllose weitere Janies mit ihr.
» Und jetzt sollten wir besser nach Hause gehen«, fügte sie müde hinzu, » bevor Mom und Dad diese Puppe in Claudias Bett entdecken.«
Alys hatte benommen und verwirrt zugehört. Jetzt zuckte sie zusammen. » Bevor – oh, Janie, wie spät ist es? Und von welcher Puppe sprichst du?«
» Es ist sehr spät«, antwortete Janie, » und was es mit der Puppe auf sich hat, werde ich euch unterwegs erklären.«
Kapitel 13 – DRAUSSEN IN DER WILDWORLD
» Also noch mal«, sagte Janie. » Räder in der Garage, Garagentür unverschlossen. Kissen bereit. Wecker gestellt …«
» Und nachts ist es dunkler als draußen«, meinte Charles. » Glaub mir, Janie, wir haben’s kapiert. Es reicht.«
Das nachmittägliche Sonnenlicht fiel schräg durch das Fenster und erhellte den Boden des Kinderzimmers, wo es sich die vier Geschwister bequem gemacht hatten. Eine sonntägliche Stille lag draußen über der Welt. Aber hier drinnen fand keiner von ihnen Frieden. In dieser Nacht würden sie heimlich ihre
Weitere Kostenlose Bücher