Wilhelm II
Reichsverfassung übernahm beim Ausbruch eines Krieges der Kaiser den Oberbefehl über sämtliche Bodentruppen, und Wilhelm verkündete dem Vernehmen nach »daß er [der Kaiser] im Kriege die Feldherrn-Rolle selbst zu übernehmen geneigt wäre«. 8 Sollte er wirklich einmal diesen Anspruch erhoben haben, so wurde er im August 1914 durch den Kriegsausbruch von solchen Wahnvorstellungen geheilt: Er beeilte sich, offiziell dem Generalstabschef die Vollmacht zu übertragen, in seinem Namen Befehle zu erteilen. Dadurch wurde der Generalstabschef zu dem »eigentlichen Träger der Befugnisse der Obersten Heeresleitung […], und jedenfalls der einzige, der für deren Handlungen oder Unterlassungen verantwortlich war«. 9 Anfang August versprach Wilhelm, dass er davon absehen werde, sich in den Ablauf der Operationen einzumischen; dieses Versprechen hielt er während des ganzen Krieges. Die Generäle sorgten ihrerseits, zumindest
in den ersten Kriegsjahren, dafür, dass er von einem großen Teil der schlechten Nachrichten von der Front abgeschirmt wurde, möglicherweise weil sie die Labilität seiner Kampfmoral kannten. Der Kriegsausbruch versetzte ihn augenscheinlich in einen Zustand nervlicher Erschöpfung, der – mit kurzen Unterbrechungen – so lange wie der Krieg selbst anhielt. Wilhelm konnte bei Gerüchten über Erfolge in blutrünstige Jubelrufe ausbrechen, war aber ebenso schnell niedergeschlagen und neigte zu Anfällen von Defätismus. Seine Stimmung stieg und fiel gemäß den rasch wechselnden Neuigkeiten von der Front. Am 6. September 1916 wurde zum Beispiel gemeldet, dass der Kaiser »sehr schlecht aussah«, weil er soeben einen alarmierenden Bericht über den Zustand der 1. Gardedivision an der Somme erhalten hatte. Aber schon den nächsten Tag verbrachte er nach der Meldung vom Fall der rumänischen Festung Tutrakan offenbar in »sehr gehobener Stimmung«. 10
Somit wurde der Kaiser zunehmend zu einer Randfigur, einem »Gefangenen seiner Generäle«, wie ein österreichisch-ungarischer Minister sich später erinnerte. 11 Er blieb in den Kriegsjahren ständig im Großen Hauptquartier, beschwerte sich aber, dass er von den Entscheidungsträgern weder auf dem Laufenden gehalten noch zu Rate gezogen wurde. 12 Besucher im Hauptquartier waren häufig verblüfft über die surreale Stimmung, die dort vorherrschte, wenn der Kaiser mit dem Silberservice Friedrichs des Großen dinierte, während er seine Gäste mit lebhaften Geschichten aus dritter Hand von den deutschen Großtaten in der Schlacht bei Laune hielt: »Zwei Meter hohe Leichenhaufen – ein Unteroffizier hat mit 45 Patronen 27 Franzosen umgelegt, u.a.m.« 13 »Wenn man sich in Deutschland einbildet, dass ich das Heer führe«, bemerkte er im November 1914, »so irrt man sich sehr. Ich trinke Tee und säge Holz und gehe spazieren, und dann erfahre ich von Zeit zu Zeit, das und das ist gemacht, ganz wie es den Herren beliebt.« 14 »Ich rede ja so wenig rein als möglich«, sagte er im Sommer 1915 dem preußischen Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn, »aber Falkenhayn muss doch nach
außen die Fiktion erhalten, dass ich alles persönlich anordne.« 15 Die Kabinettschefs, deren Aufgabe es war, dem Kaiser in den Kriegsjahren ihre Aufwartung zu machen, beklagten sich unter der Hand über die Abende, die man sehr isoliert unter sich und in quälender Lageweile zubrachte: Man hörte sich die unendlichen kaiserlichen Monologe an, ertrug geduldig seine neuesten Leidenschaften (im Sommer 1916 begeisterte er sich für die philologische Rekonstruktion der hethitischen Sprache), nahm an Gesprächen teil, die offenbar nie wirklich in Gang kamen, oder spielte Karten, um die Zeit totzuschlagen. 16
Historiker haben zu Recht hervorgehoben, dass der Krieg den Kaiser aus dem Zentrum des Geschehens verdrängte. Lamar Cecil schreibt dazu: »Das einst hochgerühmte, persönliche Regiment mit seinem mächtigen Thron und Herrscher wurde in Kriegszeiten zu einer Hinterbank, auf der eine vernachlässigte, schlecht informierte und immer unbedeutendere Galionsfigur saß.« 17 Es wäre jedoch ein Fehler, allzu sehr darauf abzuheben. Wilhelm war zwangsläufig aus der Sphäre des operativen Kommandos über die Landstreitkräfte ausgeschlossen – auf diesem Feld musste der Ehrgeiz des universalisierenden Monarchen den Gralshütern des Fachwissens weichen. Aber er übte einen direkteren, wenn auch weitgehend bremsenden Einfluss auf die Kriegsoperationen der deutschen Kriegsmarine
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