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Wilhelm II

Wilhelm II

Titel: Wilhelm II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clark Christopher
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europäischen Regierungen weit verbreitet sei. Nicht zuletzt deshalb ging Wilhelm, wie die meisten seiner politischen Berater, davon aus, dass sich Russland gegen eine Intervention in den österreichisch-serbischen Konflikt entscheiden werde, selbst wenn es zu einer militärischen Konfrontation kommen sollte. Diese »Illusion eines begrenzten Krieges« wird häufig als Ausschlag gebender Faktor für die deutsche Entscheidung genannt, Österreich-Ungarn zu unterstützen. 116
    Wie man nun die falsche Einschätzung der Lage durch Wilhelm und die Regierung in Berlin beurteilt, hängt davon ab, ob man die Annahme einer russischen Neutralität als eine völlig absurde Wahnvorstellung – eine Fehlinterpretation der russischen Intentionen, die nicht anders denn als Deckmantel für Pläne, einen »Präventivkrieg« zu starten, zu erklären ist – betrachtet oder ob man die Gründe ernst nimmt, die für eine russische Nichtintervention angeführt wurden. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Deutschen viele Gründe hatten, darauf zu vertrauen, dass sich die Russen aus dem Konflikt heraushalten würden. Der wohl wichtigste war, wie gesagt, der noch sehr unzureichende Stand des russischen Rüstungsprogramms. Ein weiterer Faktor waren Signale einer Unentschlossenheit, die von den Russen, den Franzosen und den Briten ausgingen. Die Russen intervenierten am Ende, aber das war keineswegs unvermeidbar: Nach der Erfahrung der jüngsten Konflikte auf dem Balkan war es schwierig vorherzusagen, wie massiv Russland auf diese konkrete Herausforderung reagieren würde. Außerdem hätte die russische Politik während der Julikrise eine ganze andere Richtung nehmen können, wenn Kokowzow noch Regierungschef gewesen wäre oder wenn die Franzosen am 27. und 28. Juli nicht so eindringlich eine Generalmobilmachung gefordert hätten.

    Andererseits wussten selbst die größten Hitzköpfe der deutschen Führung genau, dass das Risiko einer russischen Intervention bestand; andernfalls wäre das Versprechen vom 5. Juli bedeutungslos gewesen. Die Quellen lassen jedoch vermuten, dass dieses Risiko zu der Zeit, als der »Blankoscheck« ausgestellt wurde, als minimal eingeschätzt wurde. Es wurde jedoch allmählich immer größer, als die allgemeine Empörung über das Attentat von Sarajevo nachließ, als die Österreicher sich mit den nächsten Schritten Zeit ließen und dadurch der Eindruck entstand, dass Berlin und Wien gemeinsam eine umfangreiche Demarche mit dem Ziel, Russland aus dem Balkan zu verdrängen, ausgearbeitet hatten. Für Wilhelm kam der erste »Realitätsschock«, als ihn Telegramme von Lichnowsky am 27./28. Juli über eine Verhärtung der britischen Position informierten. Der Kaiser, der London als Schlüssel zur kontinentalen Großmachtpolitik betrachtete, reagierte mit einem verzweifelten Versuch, den Konflikt zu verhindern, bevor er ausbrach, indem er die serbische Antwort als Basis für eine Vermittlung zwischen Belgrad und Wien verwenden wollte. Um das zu erreichen, war er sogar bereit, sein Versprechen vom 5. Juli zu brechen, oder genauer, es durch eine neue Konstruktion zu ersetzen: Deutsche »Unterstützung« bedeutete nunmehr wohlwollende Vermittlung, nicht militärischer Beistand gegen eine dritte Partei. Das ganze Vorgehen stand durchaus im Einklang mit Wilhelms früherer Haltung zu der Bündnisbeziehung, in der sich der persönliche Respekt für den betagten Kaiser und die Sorge, das österreichische Vertrauen in Berlin nicht aufs Spiel zu setzen, die Waage hielten mit einem Widerwillen, Deutschland in einen Balkankonflikt hineinziehen zu lassen, an dem eine oder mehrere feindliche Großmächte beteiligt waren. Wilhelms Initiative blieb jedoch nur auf dem Papier, weil sie vom Kanzler hintertrieben wurde – ein weiterer Fingerzeig, dass Wilhelm den Lauf der deutschen Politik zwar beeinflussen, aber nicht steuern konnte.

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    Krieg, Exil, Tod: 1914-1941

Oberster Kriegsherr
    Der preußisch-deutsche Monarch war – zumindest in der Theorie – ein militärischer Befehlshaber. Seit Beginn seiner Herrschaft betrachtete Wilhelm II. diesen Aspekt seiner Aufgaben als wesentliche Dimension seiner souveränen Macht. In einer Kabinettsorder kündigte er nur wenige Wochen nach der Thronbesteigung die Schaffung einer neuen militärischen Einrichtung an, mit dem Namen das »Hauptquartier Seiner Majestät des Kaisers und des Königs«. Anders als das traditionelle, preußische militärische Gefolge, dessen Mitglieder als

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