Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
mehr oder weniger schlüssige Anwendung klinischer Kriterien wird nicht selten als rationale Rechtfertigung nachgeschoben. Das erklärt nicht zuletzt, weshalb die »Diagnose« Wilhelms II. historisch dazu neigte, den zeitgenössischen Strömungen in der Wissenschaft zu folgen: »Nervenschwäche« in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts; dynastische Degeneration in der frühen Weimarer Republik; Freudsche Paradigmen in den zwanziger Jahren und immer wieder danach; »unterdrückte Homosexualität« seit den Siebzigern; Neurologie in den Achtzigern; und zuletzt in dem von der Gentechnik besessenen fin de siècle des 20. Jahrhunderts »die Gene Georges III.« (also Porphyrie). 65
Die Erklärungsmuster, die von der Psychogeschichte und der retrospektiven Neurologie angeboten werden, haben noch einen dritten und wohl schwerwiegendsten Nachteil: Sie führen uns tendenziell davon weg, Verhalten rational und im historischen Kontext zu erklären. In einer inzwischen berühmten Studie der psychischen Verfassung Wilhelms zählt John Röhl beispielsweise Episoden auf, die scheinbar die Behauptung unterstützen, dass Wilhelm unter »Cäsarenwahnsinn« (verrückte Wahnvorstellungen hinsichtlich der eigenen Macht und Fähigkeiten) gelitten habe. Darunter findet sich folgende Anekdote: Einmal erklärte Wilhelm einer Gruppe Admiräle: »Ihr wisst alle gar nichts. Nur ich weiß etwas, nur ich entscheide.« 66 Wenn man davon ausgeht, dass der Kaiser von Geburt an gestört war, dann liest man diese Bemerkungen wortwörtlich als Beweis für eine irregeleitete Weltanschauung. Aber man kann dieselben Bemerkungen auch aus der Situation heraus lesen. Der deutsche Kaiser war umgeben von Menschen (darunter Führungspersonen des Militär und der Marine), deren Fachwissen eine Gefahr war für seine persönliche Entscheidungsgewalt über die vielen Domänen, die ihm nominell unterstanden. Man könnte Wilhelms Ausbruch (für wie unüberlegt und unpassend man ihn auch halten mag) somit auch als eine Bekräftigung der politischen Gewalt der Exekutive angesichts der technokratischen oder institutionellen Befugnisse interpretieren. In den folgenden Kapiteln wird immer wieder auf die wichtigen, von Kohut und Röhl aufgeworfenen Fragen Bezug genommen. Aber nach Möglichkeit konzentriert sich die Interpretation des Verhaltens Wilhelms II. als Kaiser auf eine Analyse dessen, was im Licht des historischen Kontextes »rational« war.
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Übernahme der Macht
Macht und Verfassung
Wie war die Macht im deutschen politischen System verteilt? Wie viel Macht lag im Deutschen Reich beim Kaiser? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir zunächst die Verfassung vom 16. April 1871 näher betrachten, die die politischen Organe des Reiches und ihre Beziehung untereinander definiert. Die Reichsverfassung, die Wilhelm II. in seiner Thronrede vor dem Reichstag am 25. Juni 1888 »zu wahren und zu schirmen« 1 schwor, war das Produkt eines komplexen, historischen Kompromisses. Nach dem überwiegend von Preußen errungenen Sieg über Frankreich 1870/71 bestand die Aufgabe der neuen deutschen Reichsverfassung darin, die Macht unter einer Vielzahl von Interessen aufzuteilen. Bismarck selbst war natürlich in erster Linie daran interessiert, den Einfluss Preußens zu festigen und auszudehnen. Doch mit diesem Programm konnte man aus nahe liegenden Gründen die anderen deutschen Staaten, insbesondere die großen deutschen Länder Baden, Württemberg und Bayern, natürlich nicht locken. Folglich musste ein Kompromiss gefunden werden zwischen den Ambitionen der souveränen Einheiten, die zusammengekommen waren, um das deutsche Reich zu bilden, und der Notwendigkeit einer zentralen, koordinierenden Exekutive.
Wie zu erwarten, war die daraus resultierende Verfassung ihrem Wesen nach ausgesprochen dezentral. Tatsächlich handelte es sich weniger um eine Verfassung im traditionellen Sinn als um einen Vertrag zwischen souveränen Territorien, die sich darauf geeinigt hatten, das deutsche Kaiserreich zu bilden. 2 Im Einklang mit der Auffassung, dass das neue Reich eigentlich kaum mehr als eine Konföderation von Fürstentümern, also ein Fürstenbund war, tauschten die deutschen Länder auch weiterhin untereinander diplomatische Vertretungen aus – ein glücklicher Umstand, wie sich herausstellte, weil die von den Gesandten verfassten Berichte heute zu den besten Quellen zählen, die uns für die Erforschung des politischen Lebens im neuen Reich vorliegen. Nach
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