Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
derselben Logik entsandten ausländische Mächte nicht nur nach Berlin ihre Vertreter, sondern auch nach Dresden und München.
Der ausgeprägte Föderalismus der Verfassung von 1871 tritt noch deutlicher zutage, wenn man sie mit der gescheiterten Reichsverfassung vergleicht, welche die liberalen Juristen der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 entworfen hatten. Hatte die Frankfurter Verfassung einheitliche, politische Grundsätze für die Regierungen aller Einzelstaaten festgelegt, verzichtete das spätere Dokument darauf. Während die Frankfurter Verfassung die Schaffung einer »Reichsgewalt« vorsah, die sich von der Regierungsgewalt der Mitgliedstaaten unterschied, war nach der Verfassung von 1871 der Bundesrat das souveräne Organ, das sich aus »Vertretern der Mitglieder des Bundes« zusammensetzte. 3 Der Bundesrat entschied, welche Gesetzesinitiativen in den Reichstag eingebracht wurden, und ohne seine Zustimmung konnte kein Gesetz in Kraft treten; ferner hatte der Rat die Aufgabe, die Einhaltung der Reichsgesetze zu überwachen. Jedes Mitglied des Bundes hatte das Recht, Gesetzesvorlagen einzubringen und sie im Rat diskutieren zu lassen. Die Verfassung von 1871 kündigte in Artikel 8 sogar an, dass der Bundesrat aus den eigenen Mitgliedern eine Reihe »dauernder Ausschüsse« bilden werde, die unter anderem für die Ressorts Außenpolitik, Heer und Befestigungsanlagen sowie Marine zuständig waren.
Die dezidiert föderative Ausrichtung der Verfassung hatte unweigerlich wichtige Folgen für die Stellung des Kaisers. Die Autoren der Verfassung gaben sich eindeutig alle Mühe, die Vollmachten des kaiserlichen Amtes nicht auf eine Weise hervorzuheben, dass sie die föderalistischen Empfindlichkeiten beeinträchtigt hätten. Auch hier ist ein Vergleich mit der Frankfurter Verfassung aufschlussreich. Während das ältere Dokument einen Abschnitt mit der Überschrift »Reichsoberhaupt« enthält, hat die Verfassung von 1871 keine entsprechende Rubrik. Stattdessen werden die Vollmachten des Kaisers in Abschnitt IV festgelegt, der sich mit dem Präsidium des Bundes und des Bundesrates befasst. Während die Verfassung von 1849 ganz klar feststellt: »Der Kaiser erklärt Krieg und schließt Frieden«, fügt das spätere Dokument hinzu, dass der Kaiser die Zustimmung des Bundesrates benötigt, um Krieg zu erklären, mit Ausnahme von Fällen, in denen das Reichsgebiet angegriffen wird. Während die Frankfurter Verfassung dem Kaiser das Recht einräumt, beide Kammern des Parlaments aufzulösen (Artikel 79), legt die Reichsverfassung von 1871 in Artikel 24 fest, dass der Bundesrat die Vollmacht habe den Reichstag aufzulösen, aber die Zustimmung des Kaisers einholen müsse. In Artikel 14 wird vereinbart, dass sich der Bundesrat jederzeit selbst einberufen kann, sofern sich ein Drittel der Mitglieder dafür ausspricht. Kurzum, der Kaiser erschien 1871 als ein deutscher Fürst unter anderen, als primus inter pares, dessen Befugnisse sich aus seiner Sonderstellung in dem Bund ableiteten, statt aus einem Anspruch auf direkte Herrschaft über das Reichsgebiet. Daraus folgte auch, dass der offizielle Titel nicht »Kaiser von Deutschland« lautete, wie Kaiser Wilhelm I. es vorgezogen hätte, sondern »Deutscher Kaiser«. Einem nicht eingeweihten Leser der Verfassung von 1871 konnte man es durchaus nachsehen, wenn er zu dem Schluss gelangte, dass im deutschen Kaiserreich der Bundesrat der eigentliche Sitz nicht nur der Souveränität, sondern auch der politischen Macht war.
Doch Verfassungen haben häufig wenig mit der politischen Realität zu tun – man denke nur an die »Verfassungen« der Staaten des Ostblocks nach 1945 -, und die Reichsverfassung von 1871 bildete hier keine Ausnahme. Ungeachtet der vielen Zugeständnisse, die dem Prinzip des Föderalismus auf dem Papier gemacht wurden, hatten die meisten Entwicklungen der deutschen Politik im Laufe der folgenden Jahrzehnte in der Praxis die Tendenz, die föderale Autorität zu untergraben, die dem Bundesrat verliehen worden war. Auch wenn Reichskanzler Bismarck hartnäckig erklärte, dass Deutschland ein »Fürstenbund« sei und bleibe, übte der Rat nie die ihm laut Verfassung zustehenden Vollmachten aus. Dafür gab es verschiedene Gründe. Der wichtigste und naheliegendste Grund war schlichtweg die überwältigende Dominanz Preußens, in militärischer wie in territorialer Hinsicht. In dem Bund genoss der Staat Preußen mit 65 Prozent der Landesfläche und 62 Prozent
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