Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
Persönlichkeit des Kaisers
Schufen die Umstände der Geburt und Kindheit Wilhelms die Grundlagen für eine abnormale psychische Entwicklung? Seit der Novemberrevolution, durch die Wilhelm 1918 vom Thron vertrieben worden war, stellte die angebliche Instabilität oder gar Geisteskrankheit des letzten deutschen Kaisers ein zentrales Thema der historischen und populären Literatur über seine Herrschaft dar. Schon im ersten Jahr nach der Abdankung erschien eine ganze Reihe von Studien, die Wilhelms psychische Befähigung zu seiner Rolle als Souverän in Frage stellten: Die Geisteskrankheit Wilhelms II. (Franz Kleinschrod), Wilhelm II. periodisch geisteskrank! (Hermann Lutz), Wilhelm II. als Krüppel und Psychopath (H. Wilm). »Aber er war krank, krank wie sein Denken und Fühlen«, schrieb Paul Tesdorpf, der Autor der Studie Die Krankheit Wilhelms II. »Für einen erfahrenen Arzt und Psychiater besteht gar kein Zweifel, dass Wilhelm II. schon von Jugend auf ein Geisteskranker war.« 57 Einige frühe Studien waren sich darin einig, dass Wilhelm unter einer angeborenen degenerativen Störung litt, die von der jahrelangen dynastischen »Überzüchtung« verursacht worden sei. Diese polemischen Schriften hatten selbstverständlich keinerlei diagnostischen Wert. Das Hauptanliegen ihrer Autoren war es, die deutsche Kriegsschuld dem »Psychopathen« Wilhelm aufzubürden, der ihrer Meinung nach die Verantwortung für die katastrophale Wende des deutschen Schicksals seit 1914 trug. (»Die Schuld, die ihn an dem Kriege trifft, entspringt seiner Krankheit«, schrieb Paul Tesdorpf im Jahr 1919.) Und das Argument der dynastischen »Entartung« beruhte weniger auf klinischen Studien als auf einer langjährigen, bürgerlich-liberalen Kritik an der Erbmonarchie.
Im Jahr 1926 verwarf Emil Ludwig in seiner Bestsellerbiografie die tendenziösen Verallgemeinerungen der ersten Nachkriegspamphlete und legte eine facettenreichere und etwas wohlwollendere Analyse der Charakterentwicklung des ehemaligen Kaisers vor. Ludwig konzentrierte sich stattdessen auf Wilhelms körperliche Behinderung. Beim Einsatz der Zange während einer langen und schwierigen Geburt waren Nervenbahnen in Wilhelms Schulter verletzt worden, so dass sein linker Arm dauerhaft gelähmt blieb. Der »lebenslange Kampf gegen die angeborene Schwäche«, so Ludwig, sei der entscheidende Faktor für die »gesamte Charakterbildung« gewesen. Langfristig folgten daraus eine Vorliebe für den Absolutismus und ein Hang, seine Unsicherheit durch die Einnahme streitlustiger, kriegerischer Posen zu verbergen. 58 Unter den Rezensenten von Ludwigs Buch fand sich kein Geringerer als Sigmund Freud persönlich, der den Biografen kritisierte, weil er das Thema des verkrüppelten Arms allzu sehr hochspiele. Weniger der Arm als solcher, so Freud in seiner »Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1932), sondern die Ablehnung des Gebrechens durch die »stolze Mutter« und der damit verbundene Entzug der Mutterliebe seien schuld an den Unzulänglichkeiten Wilhelms als Erwachsener. 59
Die Diskussion um Wilhelms geistige Verfassung wird noch heute mit unverminderter Energie geführt. Unter Berufung auf einen Strang der postfreudianischen, psychoanalytischen Theorie, die als »Selbstpsychologie« bezeichnet wird, hat unlängst der amerikanische Historiker Thomas Kohut gezielt die Mängel in der Beziehung Wilhelms zu seinen Eltern, insbesondere seiner Mutter unter die Lupe genommen. Kohut vertritt die These, dass Wilhelms Eltern ihrem ältesten Sohn nicht die nötige »einfühlsame Fürsorge«, den »bestätigenden und auf ihn zurückstrahlenden Stolz«, sowie die »optimale Enttäuschung« des kindlichen Exhibitionismus zuteil werden ließen, die für die Heranreifung eines »kohärenten und wohl integrierten Selbst« erforderlich sind. Deshalb habe Wilhelm in seinem ganzen Erwachsenenleben unter der »Disharmonie oder Schwäche des Selbst« gelitten, welche das Merkmal einer »narzisstischen Pathologie« sei. Die Überempfindlichkeit, die Sehnsucht nach Bestätigung und der Mangel an »psychischer Kohärenz«, die Zeitgenossen häufig an dem Erwachsenen Wilhelm beobachteten, werden somit durch Verweis auf seine frühen familiären Erlebnisse erklärt. 60
Einen völlig anderen Erklärungsansatz für Wilhelms frühe psychische Entwicklung hat der englisch-deutsche Historiker John Röhl angewandt. Röhls Untersuchung der Jugend Wilhelms stützt sich auf eine
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