Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
dass ein Patient eine Kehlkopfoperation überlebte, sehr gering waren, sah Victoria in dieser Parteinahme eine skrupellose Verschwörung, um Wilhelms eigene Thronbesteigung zu beschleunigen oder ihren Mann für regierungsunfähig erklären zu lassen. Als Wilhelm im November 1887 von seinem Besuch in San Remo zurückgekehrt war, berichtete er, dass seine Mutter, abgesehen davon, dass sie ihn »wie einen Hund« behandelt habe, auch versucht habe, ihn von seinem Vater fernzuhalten. Das tat sie auch in Friedrich Wilhelms letzten Tagen. Aber die Zeit, die Krankheit und die dynastischen Automatismen arbeiteten für Wilhelm. Der Tod Friedrich Wilhelms am 15. Juni 1888 entfesselte in der Öffentlichkeit heftige Diskussionen über die angeblich falsche Behandlung durch diejenigen, die sich geweigert hatten, die Krebs-Diagnose zu akzeptieren, nicht zuletzt die Kaiserin selbst. Gegen den ausdrücklichen Wunsch seines Vaters und seiner verwitweten Mutter ordnete Wilhelm an, den Leichnam zu obduzieren. Die Existenz eines Krebsgeschwürs wurde bestätigt und öffentlich bekannt gegeben und stärkte damit die Position, die Wilhelm seit Frühjahr 1887 in der Diskussion eingenommen hatte.
Die Menschen am Hof waren – und sind womöglich generell – dazu geneigt, die Manipulierbarkeit anderer Personen zu überschätzen, nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst so bereitwillig glaubten, dass man mit Verschwörungen und Intrigen tatsächlich etwas erreichen kann. Der Kronprinz und seine Frau betrachteten Wilhelm als ein »Instrument« und eine »Spielkarte«, dessen »Urteil dadurch [die Palastintrigen] verkehrt« und dessen »Geist vergiftet« werde. Wie Victoria im April 1887 schrieb: »Er ist nicht klug oder erfahren genug, um das System und die Menschen zu durchschauen. Infolgedessen tun sie mit ihm, was sie wollen.« 55 Waldersee machte sich wegen der Empfänglichkeit Wilhelms für die Schmeicheleien Herberts von Bismarcks ernstlich Sorgen. Der Kanzler wiederum fürchtete, dass Wilhelm ganz unter dem Einfluss Waldersees stände. In Wirklichkeit war Wilhelm, wie die Ereignisse von 1887/88 zeigten, das Geschöpf keiner einzelnen Partei. Waldersee hatte Recht, als er im Januar 1887 beobachtete, dass der Prinz »völlig auf eigenen Füßen« stand und »auch mit voller Überlegung sich nie eine eigentliche Partei bilden [werde], weil er nicht in deren Hand kommen will«. 56 Um dieselbe Zeit äußerten sich gutinformierte Zeitgenossen (Holstein, H. Bismarck, Waldersee) anerkennend über die nüchterne Distanz und seine verblüffende Fähigkeit, sich zu verstellen – Charakterzüge, die er in den langen Jahren des Familienstreits entwickelt hatte. Seine gewandte politische Anpassungsfähigkeit – russophil in der Außenpolitik 1884-1886, im Dezember 1887 mit der »Kriegspartei« verbündet, im Februar 1888 auf Bismarcks Linie – lassen vermuten, dass er bereits damals dazu neigte, Männer und Parteien in wechselnden Kombinationen zu benutzen.
Folglich sagen die Posen, die er in diesen frühen Jahren einnahm, mehr über Wilhelms Hunger nach Macht und Anerkennung aus als über irgendwelche Verpflichtungen gegenüber bestimmten Männern beziehungsweise deren Politik. Wilhelm war in einer Atmosphäre aufgewachsen, die in regelmäßigen Abständen von Kämpfen um Macht und Einfluss aufgeheizt wurde. In deren Verlauf wurden persönliche Beziehungen infiltriert und manche Loyalitäten gefestigt, andere hingegen vergiftet. Wilhelms Eltern, insbesondere seine Mutter, wurden von diesen Kämpfen ebenso stark vereinnahmt wie ihr Gegenpart, Kanzler Bismarck. Von der bevorzugten Stellung Wilhelms aus, der von dem daraus folgenden Parteienstreit profitieren sollte, war ohne weiteres zu erkennen, wie die Themen und Diskussionen augenscheinlich dem Erwerb und Erhalt der Macht untergeordnet wurden, wie die Politik selbst nur nach einem personenbezogenen Freund- und Feindschema betrachtet wurde. Als Wilhelm den Thron bestieg, hatte er bereits ein ungewöhnlich zielstrebiges Interesse an der Macht und einen großen Appetit auf sie entwickelt. Das wurde schon an seiner Gewohnheit deutlich, Postkarten von sich selbst mit dem legendären »I bide my time« (Meine Stunde wird kommen) zu verschenken. Allerdings hatte er lediglich eine anfängliche Ahnung davon, was er mit der Macht anfangen würde, sobald er sie hatte. Das war das wohl verhängnisvollste Resultat der politischen Erziehung Wilhelms im zerstrittenen Haushalt der Hohenzollern.
Die
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