Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
Folgenden näher betrachtet.
Das Scheitern der negativen Integration
Im Juli 1894 wies Wilhelm Caprivi an, Gesetze vorzubereiten, die dem Staat neue Mittel für die Unterdrückung der Sozialdemokratie verschaffen würden, etwa die Vollmacht, sozialdemokratische Agitatoren aufs Land zu verbannen. Diese Maßnahme ist in manchen Darstellungen als Abkehr von der arbeiterfreundlichen Sozialpolitik Anfang der neunziger Jahre und als Zeichen für die Unaufrichtigkeit des Engagements Wilhelms für sein eigenes Programm gewertet worden. 54 Dabei standen drastische Maßnahmen gegen die Sozialdemokraten völlig im Einklang mit den eigentlichen Intentionen des Arbeiterprogramms, dessen Ziel es immer schon gewesen war, »gesunde« Elemente der Arbeiterklasse gegen sozialistische Ideen zu immunisieren. 55 Die Wahlergebnisse von 1893 sowie neuerliche Streikwellen im Saarland und im Rheinland brachten Wilhelm zu der Überzeugung, dass die Politik der Versöhnung nicht funktionierte. Unter diesen Voraussetzungen hoffte er, dass sich die »staatstragenden« Kräfte der Mitte mit der Regierung gegen die Sozialdemokraten vereinen würden. Das Ergebnis war ein Rückgriff auf die repressiven Rezepte, die Bismarck schon anno 1889/90 vorgeschlagen hatte.
Wilhelms Wechsel zu einer harten Linie ist außerdem als Beispiel für einen neurotisch egoistischen Ansatz in der Politik angesehen worden, in dem zugelassen wurde, dass Gefühle der persönlichen Kränkung und des Verrats (in diesem Fall durch die deutschen Arbeiter) »rationalere« Überlegungen überwogen. 56 Dabei waren die politischen Maßnahmen, die europäische Regierungen gegen die wahrgenommene Gefahr von Links ergriffen, generell nicht von rein rationalen Überlegungen geprägt; übertriebene Ängste, religiöse Bedenken und eine panischen Angst vor anarchischen Zuständen spielten ebenfalls eine Rolle. In diesem Kontext waren Wilhelms Vorschläge nicht sonderlich ausgefallen. Nach einer Kette anarchistischer Bombenanschläge und Attentate auf dem ganzen Kontinent in den Jahren 1893/94 verabschiedeten auch andere Staaten, darunter die Schweiz und Frankreich, neue antisozialistische und antianarchistische Gesetze.
Es gab allen Grund zu der Annahme, dass sich solche Maßnahmen auch in Deutschland großer Beliebtheit erfreuen würden. Die liberale und konservative Presse (selbst die Bismarckschen Hamburger Nachrichten) brachten ihre Begeisterung über das harte Durchgreifen gegen die Linke zum Ausdruck und nährten damit Wilhelms Zuversicht, dass ein antisozialistisches Gesetz den dringend benötigten Konsens im Reichstag und darüber hinaus schaffen würde. In einer Rede am 6. September 1894 vor den Abgeordneten der Provinz Ostpreußen in Königsberg kritisierte er scharf das von Junkern dominierte Publikum, weil sie sich in der Agrarpolitik gegen die Regierung gestellt hatten. Er forderte sie auf, sich ihm in dem »Kampfe für Religion, für Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Umsturzes« anzuschließen. 57 Wie Wilhelm anschließend vor Caprivi prahlte, wurde die Rede in der konservativen und liberalen Presse positiv aufgenommen; indem der Kaiser unmittelbar an den politischen Instinkt seines Volkes appellierte, hatte er jene Elemente »gewonnen«, die Caprivi mit seiner Politik nicht hatte integrieren können. 58
Letztlich gelang es Wilhelm mit der Kampagne für ein Sozialistengesetz nicht, die gemäßigten Parteien zu sammeln, vielmehr untergrub er ernsthaft den Zusammenhalt der Regierung. Das Problem lag nicht zuletzt in dem Umstand, dass der Kanzler Leo von Caprivi und der reaktionäre preußische Ministerpräsident (seit 1892) Botho von Eulenburg völlig unterschiedliche Meinungen vertraten, wie ein solches Gesetz eingebracht werden müsse. Caprivi wollte eine abgeschwächte Version des Gesetzes durch den preußischen Landtag bringen, in dem Konservative und Rechtsliberale in einer guten Position waren. Botho von Eulenburg hingegen drängte auf eine Politik der Konfrontation mit dem Reichstag: Falls der Reichstag es ablehne, die sogenannte »Umsturzvorlage« zu verabschieden, solle der Kaiser wiederholt das Mittel der Auflösung einsetzen und schließlich ganz verfassungswidrig ein neues, undemokratischeres Wahlrecht auf Reichsebene einführen. Caprivi protestierte energisch gegen dieses Szenario und verwies darauf, dass die anderen deutschen Königreiche (Bayern, Sachsen, Württemberg) einen solchen Schritt gewiss nicht unterstützen würden. Stattdessen
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