Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
würden sie das daraus resultierende Chaos dazu nutzen, ihre eigene partikularistische Politik zu verfolgen. Das Ergebnis sei eine Schwächung und am Ende womöglich sogar Auflösung des Reichs. 59 Er bestand darauf, dass die Regierung den Konflikt meiden und innerhalb des Rahmens der Verfassung handeln müsse. 60
Die unüberbrückbare Kluft zwischen den beiden Männern führte vor Augen, wie schädlich es gewesen war, nach der Schulgesetzkrise von 1892 die Ämter des preußischen und reichsdeutschen Regierungschefs in verschiedene Hände zu legen. Das dualistische (föderativ/einheitlich) Problem wurde nunmehr von zwei verschiedenen Persönlichkeiten personifiziert: dem konservativen Botho von Eulenburg, der für eine von Junkern dominierte, rechte preußische Wählerschaft sprach, und dem konservativen Reformer Caprivi, der einer labileren, nationalen Konstellation der Reichstagsparteien rechenschaftspflichtig war. Wilhelm musste sich notgedrungen entscheiden. Anfangs unterstützte er Caprivis Ansicht, ließ sich in der Folge jedoch von Eulenburg überreden, die kompromisslosere Linie einzuschlagen. Er akzeptierte, dass das Gesetz in der Form womöglich vom Reichstag nicht verabschiedet wurde, war aber bereit, die Möglichkeit eines Verfassungsbruchs ins Auge zu fassen; er erörterte sogar gemeinsam mit dem König von Sachsen Pläne für einen Staatsstreich – ein vielsagender Hinweis, dass er Bismarcks »Theorie« verinnerlicht hatte, dass die Verfassung von den deutschen Fürsten gemacht worden sei und folglich von ihnen auch wieder aufgehoben werden könne. Anfang September ging Wilhelm sogar so weit, Botho von Eulenburg mitzuteilen, dass er sich als der nächste deutsche Kanzler betrachten solle. Wilhelms wachsende Begeisterung für eine Politik der Konfrontation wurde von seiner unausgegorenen Überzeugung genährt, dass ein Schlag gegen das Parlament in irgendeiner Form seine Beziehung zu den politisch gesunden Elementen des »Volkes« wiederherstellen würde, indem der lästige Parteienstreit abgeschafft werde. Wilhelm teilte Caprivi im Oktober 1894 unmissverständlich mit: »Und der Kaiser, nicht der Beamte [also Kanzler], kenne die deutsche Volksseele und trage vor Gott die Verantwortlichkeit.« 61
Bestürzt über Wilhelms Ablehnung seiner Politik und Missachtung seiner Ratschläge reichte Caprivi einmal mehr seinen Rücktritt ein. 62 Es war ganz charakteristisch für Wilhelm, dass er nunmehr, nachdem er Caprivi an die Grenzen seiner Geduld getrieben und offenbar bereits Botho von Eulenburg als Nachfolger ausersehen hatte, wiederum einen Rückzieher machte. Er fuhr in einem Wagen mit weißen Pferden vor der Kanzlei vor, umarmte den erschöpften Kanzler und bat ihn bei einem gepflegten Glas Portwein und einer guten Zigarre eindringlich, im Amt zu bleiben. Wie dieses seltsame Verhalten deutlich zeigt, war Wilhelms Handlungsfreiheit eng begrenzt. Max Weber führt in einer klassischen Analyse des Parlaments und der Regierung in Deutschland aus, dass das empfindliche Gleichgewicht der Reichsverfassung völlig gestört würde, wenn »tatsächlich die konservative Parteiherrschaft mit der für innerpreußische Verhältnisse üblichen Rücksichtslosigkeit auch auf die Führung der Reichspolitik erstreckt würde«. 63 Wilhelm mochte von einem Staatsstreich mit Botho von Eulenburg am Ruder träumen, aber die Realität war, wie er nur allzu gut wusste, dass der Kaiser sich in einer unmöglichen Lage befinden würde, wenn Caprivi seinen Posten für Eulenburg räumen würde. »Denn er würde«, warnte ihn einer seiner engsten Berater, »vor Deutschland als Tyrann gebrandmarkt, der Caprivi, den Mann des Gesetzes, fallen lässt, um Tyrannei zu üben.« 64 Aber Botho von Eulenburg fallen zu lassen, während Caprivi im Amt blieb, wäre fast ebenso schädlich, denn Eulenburg war das Bindeglied der Regierung zur konservativen und weitgehend agrarischen Wählerschaft, die den preußischen Landtag dominierte. Da die beiden Männer im Amt überhaupt nicht miteinander auskamen, war Wilhelm letztlich gezwungen, am 26. Oktober die Rücktritte von beiden zu akzeptieren.
Die »Umsturzvorlage« wurde schließlich von Caprivis (und Eulenburgs) Nachfolger Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst im Dezember 1894 in den Reichstag eingebracht. Der frühere Plan, ein eigenes Sondergesetz einzubringen, wurde aufgegeben; der Entwurf schlug lediglich mehrere Ergänzungen zu geltenden Gesetzen vor. Dennoch wurden die Vorschläge
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