Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
heftig im Reichstag und in der Presse angegriffen. Anschließend wurden sie von einem Ausschuss überarbeitet, der versuchte, die Bestimmungen dem Zentrum schmackhaft zu machen, indem er ihnen eine religiöse Dimension verlieh: Zusätzlich zu den antisozialistischen Bestimmungen wurden neue Klauseln eingeführt, die das Stören der Gottesanbetung sowie die Aufwiegelung zu Ehebruch und Blasphemie strafbar machten. Diese Abänderungen enthüllten, wie hoffnungslos der Versuch war, eine dauerhafte Koalition um den Kampf gegen sozialdemokratische Agitation zu sammeln; zu viele Deutsche hatten andere, höhere Prioritäten. Die neue, »klerikalisierte« Vorlage wurde im Mai 1895 in den Reichstag eingebracht und wurde ohne viel Federlesens verworfen. Wilhelm war enttäuscht. Ohne Sozialistengesetz blieben der Regierung, vertraute er Hohenlohe düster an, »somit noch Feuerspritzen für gewöhnlich, und Kartätschen für die letzte Instanz übrig«. 65 Wilhelms Hoffnung, dass ein integrierter Block staatstragender Parteien durch ein gemeinsames Vorgehen gegen die Linke geschaffen werden könne, hatte sich als Illusion entpuppt; die »negative Integration« war gescheitert.
In der ersten Hälfte der neunziger Jahre war durchweg eine Kluft zwischen Wilhelms sehnsüchtigen, absolutistischen Worten und der eingeschränkten Machtstellung wahrzunehmen, die er in Wirklichkeit bekleidete. Zu Beginn der Neunziger fing der Kaiser an, insbesondere auf dem Gebiet der Ernennungen seine Muskeln spielen zu lassen. 1890 berief er etwa ohne Rücksprache mit Caprivi einen neuen Bischof von Straßburg. Gelegentliche Einmischungen in die Besetzung diplomatischer Vertretungen im Jahr 1891 verärgerten das Auswärtige Amt. Im Jahr 1893 berief er Graf Arthur von Posadowsky-Wehner ins Schatzamt und überging Caprivis eigene Kandidatenliste für den Posten. Im Herbst 1894 unter Caprivis Nachfolger Chlodwig zu Hohenlohe verstärkte er die Intensität der Einmischungen, indem er eigene Kandidaten für das Landwirtschafts- und Justizministerium nominierte. Das Recht, Personen in die Regierung und auf Posten im Staatsdienst zu berufen (sowie die Entlassung anzuordnen), stand dem Monarchen gemäß der preußischen und der Reichsverfassung zu, und Historiker haben es zutreffend als das wohl wichtigste Instrument der monarchischen Macht innerhalb des deutschen Staatswesens bezeichnet. 66
Jedoch war auch Wilhelms Freiheit, von diesem Recht Gebrauch zu machen, eingeschränkt. Wenn der Kanzler wirklich entschlossen auftrat und das Ministerium sich einig war, konnten seine Anweisungen widerrufen werden. So gelang es Caprivi 1890, die Ernennung des Generaldirektors der Firma Krupp Johann Friedrich Jencke zum einflussreichen Leiter des preußischen Finanzministeriums zu verhindern, weil er von den Ministern als Marionette der Schwerindustrie angesehen wurde. (Wilhelm hatte charakteristischerweise Jencke aus genau diesem Grund ausgewählt, um Industrielle, welche die Arbeitspolitik der Regierung ablehnten, zu versöhnen und dadurch das neutrale Image der Regierung zu wahren.) Als Wilhelm im November 1894 – wiederum als Trostpflaster für die Agrarier – einen rechten Hitzkopf für das Landwirtschaftsministerium vorschlug, endete die anschließende Auseinandersetzung mit Kanzler Hohenlohe mit der Kapitulation des Kaisers und der Berufung eines Kompromisskandidaten.
Weitere Rückschläge musste Wilhelm hinnehmen, als er selbstherrlich versuchte, sich in die Sphäre der Zivilgesellschaft einzumischen. Im Juli 1890 weigerte Wilhelm sich rundweg, die Wahl des Linksliberalen Max Forckenbeck zum Bürgermeister von Berlin zu bestätigen, weil Forckenbeck im Reichstag gegen die Erhöhung der Militärausgaben gestimmt hatte. Die Minister bestanden jedoch einmütig auf einer Bestätigung Forckenbecks, und Wilhelm musste klein beigeben. Im Fall Forckenbeck ging es nicht etwa nur um die Ministerialgewalt oder Solidarität, die Autonomie der Berliner Stadtverwaltung stand auf dem Spiel. Auf ähnliche Schwierigkeiten stieß Wilhelm, als er versuchte, einen jungen Physik-Dozenten an der Universität Berlin zu entlassen, weil er Sozialdemokrat war. Die Folge war ein Proteststurm zur Verteidigung der akademischen Freiheit seitens liberaler und konservativer Professoren. So autoritär sie in ihrer institutionellen Politik und so stramm antisozialistisch sie auch waren, ihr Streben nach Autonomie ihrer Universität war doch größer, als ihre Angst vor einer Unterwanderung
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