Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
Ostsee sprach er mit Eulenburg über die Notwendigkeit, die öffentliche Meinung durch eine Pressekampagne zugunsten der erhöhten Militärausgaben auf die Gesetzesvorlage einzustimmen. 47 Im selben Monat beauftragte Caprivi Major August Keim mit der Koordinierung der Propaganda für den Entwurf. Damit verabschiedete sich der Kanzler von seiner bislang so zurückhaltenden Öffentlichkeitsarbeit. Mit den Spendenaufrufen und Massenveranstaltungen, an denen sich Staatsdiener und national gesinnte Professoren beteiligten, nahm Keims Kampagne (zumindest dem Wesen, wenn auch nicht dem Ausmaß nach) die außerordentliche Agitation für eine Flotte Ende der neunziger Jahre vorweg. 48 Das Haupthindernis für den Erfolg war immer noch das Zentrum. Gemäßigte Zentrumsabgeordnete erklärten schon früh ihre Unterstützung für den Gesetzentwurf, aber der Agrarflügel der Partei weigerte sich, seinen Widerstand aufzugeben. Einmal mehr gab die Aussicht auf Zugeständnisse in der Religionspolitik den Ausschlag dafür, dass sich die Partei geschlossen hinter den Entwurf stellte. Über die Art der Zugeständnisse wurde auf einem Treffen zwischen dem Kaiser und dem Erzbischof von Breslau Georg Kardinal von Kopp diskutiert, einem Mitglied der Gruppe »einsichtsvoller Katholiken«, mit denen Wilhelm »sich aussprechen konnte«, wie er selbst sagte. 49
Selbst als diese Vorkehrungen getroffen waren, zog Wilhelm jedoch ernstlich die Möglichkeit in Betracht, dass sie nicht ausreichen würden, um die Verabschiedung der Vorlage zu garantieren. Bereits im Juli 1892 ließ er durchblicken, dass er notfalls »die Verantwortung [für die Angelegenheit] dem Volk feierlich überlassen«, sprich: den Reichstag auflösen werde. 50 Im Januar 1893 versicherte Wilhelm den befehlshabenden Generälen der preußischen Armee sinngemäß: »Ich bringe die Vorlage durch, es koste, was es wolle, was weiß dieser Haufe [sic!] von Zivilisten von militärischen Dingen. Ich lasse auch nicht einen Mann und nicht eine Mark und jage den halbverrückten Reichstag zum Teufel, wenn er mir Opposition macht!« 51 An dieser Stelle darf nicht vergessen werden, dass der Konflikt um das Militär im Grunde in der Reichsverfassung vorprogrammiert war. Die Verfassung hatte nämlich die Frage offen gelassen, welches Organ denn die Militärausgaben kontrollierte. Das Heer war, in der Theorie, zugleich eine königliche und eine parlamentarische Einrichtung. Die Verfassung legt einerseits in Artikel 63 fest, dass der Kaiser »den Präsenzstand, die Gliederung und Einteilung der Kontingente des Reichsheeres« bestimmt, andererseits heißt es aber in Artikel 60, dass »die Friedens-Präsenzstärke des Heeres im Wege der Reichsgesetzgebung festgestellt« wird. 52 Nicht zuletzt wegen dieser »umgangenen Entscheidung« in dem gesetzlichen Rahmen des Reichs waren die Militärausgaben ein ständiger Konfliktpunkt zwischen der Exekutive und der Legislative. Von den vier Auflösungen des Reichstags, die im Kaiserreich verordnet wurden (1878, 1887, 1893, 1906), erfolgten drei aus Gründen, die mit den Militärausgaben zu tun hatten. 53
Am Ende reichten weder die Unterstützung, die Keims Kampagne mobilisierte, noch die Machenschaften Wilhelms und Caprivis aus. Prompt wurde der Reichstag am 6. Mai 1893 aufgelöst. Die Auflösung hatte insofern Erfolg, als der neue Reichstag das Militärgesetz verabschiedete, der ganze Vorgang führte jedoch auch die Verwundbarkeit der Regierung vor Augen. Die Mehrheit des »Kartells« von vor 1890 wurde nicht wiederhergestellt, und das neue Parlament enthielt mehr sozialdemokratische Abgeordnete als das alte. Der Gesetzentwurf konnte nur in einer stark abgeänderten Version verabschiedet werden, die der Zentrumsabgeordnete Karl Freiherr von Huene vorgeschlagen hatte, und der Erfolg hing letztlich von den Stimmen einer disparaten Gruppe oppositioneller Splittergruppen ab: Polen, Elsässer, Hannoversche Welfen.
Die Auseinandersetzung um die Militärvorlage war ein wichtiger Meilenstein auf Wilhelms Weg zu einer kompromissloseren Haltung. Zwei Richtungen dominierten sein politisches Denken Mitte der neunziger Jahre: die Integration eines liberal-klerikalkonservativen Blocks durch eine Kampagne gegen den Feind auf der Linken (die Sozialdemokratie) und einen radikalen Bruch mit der Verfassung des deutschen Reichs, falls es der Regierung unmöglich werden sollte, unter den herrschenden Rahmenbedingungen zu arbeiten. Die beiden politischen Optionen werden im
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