Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
beobachtete: den Kaiser mit wilden Gesten, den Kanzler mit respektvoll zur Seite gelegtem Kopf, als sei er in Gedanken versunken. 12
Gleichzeitig festigte Bülow seine eigene Autorität über das preußische Ministerium. Unmittelbar nach der Ernennung zum Kanzler rief er die preußischen Staatsminister zu sich und teilte ihnen mit, dass der Kaiser nachdrücklich die Einheit der Regierung wünsche. Der Kanzler/Ministerpräsident müsse die ausschließliche Kontrolle über die Veröffentlichung von Informationen bezüglich der Überlegungen der Minister haben. 13 Bülow führte ferner eine stärker integrierte Pressearbeit ein, welche die chaotische Informationspolitik ersetzte, die unter Caprivi und Hohenlohe die Norm gewesen waren. Unter der kompetenten Aufsicht Otto Hammanns unterstützten die von der Regierung lancierten Presseberichte nicht nur die Maßnahmen Bülows und schmückten die politischen Errungenschaften noch aus, sondern sie verbreiteten auch ausgewählte Einzelheiten über seinen Charakter, seine Anschauungen und Privatleben. So entstand ein bescheidener Personenkult um den Kanzler. Ein Hauptthema in der Pressepropaganda war die enge Übereinstimmung und absolute, persönliche Harmonie zwischen dem Kaiser und »seinem« Kanzler. 14
In Wirklichkeit lag jedoch auf der Hand, dass Bülows und Wilhelms Ansichten in vielen wichtigen Fragen auseinandergingen und dass im Allgemeinen Bülow seine Meinung durchsetzen konnte. Das wurde zum Beispiel bei den wiederaufgenommenen Verhandlungen um Getreidezölle in den Jahren 1900/01 deutlich. Bülow wollte unbedingt die Konservativen und das Zentrum für eine dauerhafte Regierungsmehrheit gewinnen und plädierte aus diesem Grund für eine Kompromisslösung, die den Forderungen der Agrarier nach höheren Zöllen zum Teil nachkam. Wilhelm hatte jedoch den Widerstand der Konservativen gegen seine Kanalpläne noch nicht vergessen und holte sich diesmal Rat von dem einflussreichen Industriellen Alfred Ballin; deshalb lehnte er tendenziell Zugeständnisse an die Agrarlobby ab. Es gelang Bülow, Wilhelm auszumanövrieren, indem er die Bundesstaaten in der Zollfrage um Unterstützung bat (eine Taktik, die schon Bismarck und Wilhelm gegeneinander eingesetzt hatten). Am Ende kam das Zollgesetz vom Dezember 1902 heraus, ein Kompromiss, der höhere Zölle für importiertes Getreide einführte und fast geschlossen vom Zentrum, den agrarischen Konservativen und den Nationalliberalen verabschiedet wurde. Diese wichtige Maßnahme, die den Preis von Grundnahrungsmitteln in Deutschland merklich in die Höhe trieb, war Bülows Werk, nicht Wilhelms. 15
Es gab viele andere Initiativen, die ganz eindeutig nicht im Einklang mit Wilhelms bekannten politischen Vorlieben standen. Im Herbst 1900 beantragte der Kanzler im Reichstag im Nachhinein die Genehmigung der im Haushalt nicht vorgesehenen Mittel, mit deren Hilfe die Kosten der gemeinsamen Strafexpedition nach China zur Niederschlagung des Boxeraufstands gedeckt werden sollten. Wilhelm hatte zuvor Hohenlohe einen solchen Schritt ausdrücklich mit der Begründung untersagt, man werde darin eine schädliche Kapitulation der Regierung vor der Autorität des Reichstags in einer sensiblen Angelegenheit sehen, die der kaiserlichen Prärogative vorbehalten sei. Indem Bülow jedoch Straffreiheit beantragte, erwarb er sich breite Unterstützung im Parlament, wo der Schritt als Signal gewertet wurde, dass sich der neue Kanzler stärker als seine Vorgänger auf das Parlament stützen werde. 16 Eine ähnliche Uneinigkeit bestand zwischen Bülow und Wilhelm in der Frage, ob Reichstagsabgeordnete eine Entschädigung, sogenannte »Diäten« für die Zeit erhalten sollten, die sie in Parlamentssitzungen verbrachten. »Was, den Kerls auch noch Diäten geben?«, lautete die ungläubige Antwort Wilhelms auf diesen Vorschlag. Der Widerstand des Kaisers gegen diesen Schritt war allgemein bekannt; die Vorlage wäre nie in Kraft getreten, wenn Bülow sie 1906 nicht durch ein zögerliches, preußisches Ministerium »durchgeboxt« hätte. 17
Die Zugeständnisse Bülows an die katholischen Interessen sorgten für weitere Spannungen mit dem Monarchen. Wilhelms Vorliebe für eine Regierungsmehrheit aus einer protestantischen Mittelschicht und unparteiischen, national gesinnten, »einsichtsvollen« Katholiken war seit dem Fiasko um die Schulpolitik im Jahr 1892 deutlich geworden, und es war allgemein bekannt, dass Wilhelm sich über die »Herrschaft des
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