Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
nach außen hin ruhig, bis eine Auseinandersetzung wegen der deutschen Russlandpolitik um ein Haar Bülows Amtszeit beendet hätte. Im Juli 1905 traf Wilhelm seinen Vetter Zar Nikolaus II. in der Nähe des finnischen Dorfes Björkö. Man einigte sich auf einen gegenseitigen Beistandspakt. Einen Vertragsentwurf hatte Bülow zuvor bereits geprüft und genehmigt, aber im Laufe der Verhandlungen mit Nikolaus nahm Wilhelm eine wesentliche Abänderung am Wortlaut vor. Bülow weigerte sich, den »Vertrag von Björkö« in der geänderten Form anzunehmen, behauptete, der Vertrag diene nicht länger den deutschen außenpolitischen Interessen, und reichte sein Rücktrittsgesuch ein. An dieser Stelle soll es uns weniger um die betreffende Abänderung oder den internationalen Kontext des Streits gehen, sondern um die Konsequenzen für die Beziehung zwischen dem Kaiser und seinem mächtigsten Staatsdiener.
Wilhelm war hocherfreut darüber, dass er die Unterschrift des Zaren unter den Vertrag erhalten hatte, und zugleich schockiert über die Nachricht, dass Bülow die Absicht habe, wegen der Änderung des Textes zurückzutreten. In einem gequälten Antwortschreiben erklärte er: »Ihre Person ist für mich und unser Vaterland 100 000 Mal mehr wert als alle Verträge der Welt.« Wilhelm flehte Bülow an, von dem Rücktritt Abstand zu nehmen: »Ich appeliere an Ihre Freundschaft für mich, und lassen Sie nicht wieder etwas von Ihrer Abgangsabsicht hören. Telegraphieren Sie mir nach diesem Briefe: ›Allright!‹, dann weiß ich, daß Sie bleiben! Denn der Morgen nach dem Eintreffen Ihres Abschiedgesuches würde den Kaiser nicht mehr am Leben treffen ! Denken Sie an meine arme Frau und Kinder.« 29 Bülow war zufrieden und willigte ein, im Amt zu bleiben; unterschiedliche Anschauungen zur Außenpolitik spielten hier gewiss auch eine Rolle, aber vor allen Dingen wollte Bülow mit der Rücktrittsdrohung eine Stärkung seiner Stellung erreichen, indem er Wilhelm vor Augen führte, wie sehr er auf die Fähigkeiten und das Ansehen seines Kanzlers angewiesen war.
Bülows Machtpoker funktionierte auf kurze Sicht insofern, als Wilhelm nachgab, aber die Episode hatte auch für Bülow negative Konsequenzen. Wilhelm war nach der Krise über den Kanzler verärgert und entschlossen, seine politische Autorität zu stärken. In den Wintermonaten 1905/06 folgten kurz nacheinander drei hohe Ernennungen, bei denen Wilhelm seine persönlichen Kandidaten durchsetzen konnte. Clemens von Delbrück, der ehemalige Oberpräsident von Westpreußen, der Möller im Handelsministerium ablöste, war ein persönlicher Günstling des Kaisers. Während Bülow mögliche Kandidaten für das Amt des Leiters der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes befragte, bot Wilhelm eigenständig den Posten seinem Verwandten Erbprinz Ernst zu Hohenlohe-Langenburg an, einem Mann, der über so gut wie keine Erfahrungen in Kolonialpolitik oder Verwaltung verfügte. Als Oswald von Richthofen, Bülows treuer Staatssekretär im Auswärtigen Amt, im Dezember 1905 an Überarbeitung starb, ignorierte Wilhelm Bülows Rat und ernannte Heinrich von Tschirschky, einen persönlichen Freund und Urlaubskameraden, zum Nachfolger Richthofens – ein Schritt, den manche Zeitgenossen als Versuch werteten, die Kontrolle des Kaisers über die Außenpolitik zu festigen. Wilhelm hatte es so eilig, die Außenpolitik wieder unter seine Kontrolle zu bringen, dass er für Februar 1906 eine Sitzung des Kronrats einberief – die dritte unter Bülows Kanzlerschaft, aber die erste, die sich mit gewöhnlichen Regierungsgeschäften befassen sollte (die vorigen beiden Sitzungen waren wegen besonderer nationaler Notlagen einberufen worden).
Der Kanzler wurde von Wilhelm verstärkt unter Druck gesetzt, die generelle Orientierung seiner Politik zu ändern. Erschwerend kam hinzu: Es gab Anzeichen, dass Wilhelm nicht bereit war, sich mit Blick auf das Zentrum noch länger zurückzuhalten. Mit der Entscheidung des Kaisers, den stramm protestantischen Hohenlohe-Langenburg zum Leiter der Kolonialabteilung zu ernennen, machte er sich das Zentrum zum Feind, dessen Führung es unter anderem gerne gesehen hätte, wenn katholische Kandidaten auf Verwaltungsämter berufen worden wären und wenn die Kolonialbehörden katholische Missionen in den deutschen Kolonien gerechter behandelt hätten. Es war charakteristisch für die neue Stimmung, dass Kriegsminister von Einem im Januar 1906 unnötigerweise die
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