Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
sobald er das Amt angetreten hatte, seine Politik auch auf die Wünsche des Kaisers zuschneiden würde. Karl von Einem beispielsweise, der preußische Kriegsminister, der auf Wilhelms Drängen hin 1903 ernannt wurde, mochte Einmischungen von oben überhaupt nicht und entpuppte sich schon bald als Gegner der Befestigungspolitik Wilhelms im Rheinland. 24
Bülow gab sich alle Mühe, die Verschiebung des Kräftegleichgewichts zwischen Kanzler und Kaiser, die seit dem Rücktritt Hohenlohes eingetreten war, vor Wilhelm zu verheimlichen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit trachtete er danach, dem Kaiser einzureden, dass ihm, Wilhelm, das Verdienst für die Erfolge der Regierung im Parlament und im Ausland gebühre, und dass Bülows Pläne allesamt der Versuch seien, die ehrenwerte Vision des Kaisers von einer nationalen Politik in die Realität umzusetzen. Die Briefe, die er seinem »Herrn« schrieb, waren ähnlich wie die Eulenburgs im Plauderton gehalten, sprudelten nur so vor gewagten Scherzen und spielten mit der Frauenfeindlichkeit und den Vorurteilen des Adressaten. 25 Wie gesagt, war Wilhelm anfangs hocherfreut über den neuen Kanzler; vor allem schätzte er die politische Ruhe, die seit Bülows Amtsantritt eingekehrt war. »[…] Bernhard lasse ich ruhig schalten«, teilte er Eulenburg im Juli 1901 mit. »Seit ich ihn habe, kann ich ruhig schlafen. Ich lasse ihn gewähren und weiß, dass alles gut geht!« 26
Bereits im Jahr 1902 sprach jedoch vieles dafür, dass Wilhelm über seinen Ausschluss aus dem politischen Prozess zunehmend beunruhigt war, dass er der politischen Linie immer kritischer gegenüberstand. Er fasste den Entschluss, dem Kanzler in Kernthemen Paroli zu bieten. Zum Beispiel drängte er Bülow mit Erfolg, Gesetze zur Unterdrückung der nationalistischen, polnischen Agitation in den preußischen Landtag einzubringen – und das zu einer Zeit, als die Gefahr bestand, mit diesem Schritt die Vertreter des Zentrums zu kränken, deren Unterstützung für Bülows geplantes Zollgesetz im Reichstag dringend benötigt wurde. Ein ernster Konflikt brach im September 1902 über die Frage aus, ob Wilhelm drei Generälen der Buren, die gerade durch Deutschland reisten, eine Audienz gewähren sollte. Bülow setzte sich nachdrücklich für eine Audienz ein, aber Wilhelm lehnte das kategorisch ab, weil er fürchtete, dass diese Geste die Beziehungen zu Großbritannien belasten würde. (Holstein fand schließlich eine Möglichkeit, das Thema zu umgehen, ohne dass es zu einer Audienz kam.) Auch wenn die Missstimmung zwischen den beiden Männern bis Weihnachten verflogen war, hat es den Anschein, dass Wilhelm nunmehr klarer erkannte, wie sehr man ihm eigentlich die Hände gebunden hatte. In diesem Sinne markierten die Ereignisse des Herbstes 1902 das Ende der harmonischen Eintracht mit Bülow.
Da ihm allmählich bewusst wurde, welche Kluft zwischen den politischen Realitäten und seiner Vision für die eigene Rolle klaffte, da die anhaltenden Erfolge der Sozialdemokratie Anlass zu den schlimmsten Befürchtungen gab und Wilhelm zu allem Überfluss wegen seiner öffentlichen Äußerungen in der deutschen Presse scharf kritisiert wurde, verschlechterte sich seine Laune während des Sommerurlaubs 1903 dramatisch. Auf der alljährlichen Kreuzfahrt, an der Eulenburg teilnahm, äußerte Wilhelm zum ersten Mal ganz offen Kritik am Kanzler und stellte in einer Unterhaltung fest, dass Bülow die Wirkung der Einführung von Wahlkabinen falsch beurteile und die Gefahr, die von der Sozialdemokratie ausgehe, unterschätze. 27 Er wurde immer schreckhafter und reizbarer: Bei einer abendlichen Diskussion, mit der in der Regel ein Tag auf der königlichen Jacht ausklang, ließ er Anzeichen einer Verwirrung und nervlichen Anspannung erkennen. An einem Abend hörte die Gesellschaft auf dem Schiff Wilhelm Onckens klassische Darstellung der Revolutionen von 1848. Wenig später bekam Wilhelm einen Wutanfall, erklärte, er »habe Rache zu nehmen für 48«, und behauptete: » Jeder Mensch ist ein Schweinehund! Nur durch ganz bestimmte Befehle wird er gehalten und dirigiert!« 28 Auch wenn sich Wilhelm wegen der in Onckens Werk geschilderten Ereignisse zu dieser Äußerung hinreißen ließ, liegt die Vermutung nahe, dass sich in ihnen das Gefühl Wilhelms widerspiegelt, dass ihm die Kontrolle über den politischen Prozess entglitten war.
Vertrauenskrise (1905/06)
Trotz dieser Spannungen blieb die Beziehung zwischen Kaiser und Kanzler
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