Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
Graf Lamsdorff darauf hin, dass es »unzulässig« sei, »zwei Regierungen, deren Interessen völlig entgegengesetzt waren, zur gleichen Zeit die gleichen Versprechungen zu machen«. Nikolaus’ reuevolle Antwort enthüllt, wie wacklig das Fundament war, auf das dieses Abkommen aufgebaut worden war: »Ich habe den Vertrag von Björkö nicht so wie Sie aufgefasst«, teilte er Lamsdorff mit. »Als ich ihn unterschrieb, dachte ich nicht einen Augenblick lang, dass sich mein Abkommen mit Kaiser Wilhelm gegen Frankreich richten könnte; ganz im Gegenteil; ich hatte stets beabsichtigt, dass Frankreich in es eingebunden werden müsste.« 63 Nikolaus liebäugelte immer noch mit einer Einigung mit Deutschland – womöglich eine überarbeitete Version von Björkö, die von den Franzosen bereits geprüft worden war? -, ließ aber unter dem Druck seiner politischen und wirtschaftlichen Berater den Gedanken fallen. 64 Der »östliche Weg« aus der Isolation war somit versperrt, zumindest auf absehbare Zeit.
Die andere diplomatische Option, die in diesen Jahren angestrebt wurde, konzentrierte sich auf die Entente, die unlängst Großbritannien und Frankreich geschlossen hatten. Auch hier spielte Wilhelm eine sehr exponierte Rolle, obwohl er nicht so eng an der Formulierung der Politik beteiligt war. Tatsächlich war er überhaupt nicht begeistert über die Rolle, die ihm von den Politikern in Berlin zugedacht wurde. Die Ereignisse der ersten Marokko-Krise sind häufig geschildert worden und sollen hier nur kurz skizziert werden. Im Rahmen der umfassenden Regelung anstehender Kolonialstreitigkeiten, die 1904 über die Entente Cordiale ausgehandelt worden waren, hatten die Briten eingewilligt, Marokko der französischen Einflusssphäre zuzuordnen, im Gegenzug für die Anerkennung der britischen Vorrangstellung in Ägypten durch Frankreich. Die französische Regierung war entschlossen, aus dieser Einigung Kapital zu schlagen, solange die Zusage der Briten noch frisch war, und entsandte im Januar 1905 eine diplomatische Mission nach Fez mit dem Auftrag, über die Konsolidierung der französischen Kontrolle in Marokko zu verhandeln. Das deutsche Auswärtige Amt verfolgte schon seit langem argwöhnisch die Schritte der Franzosen in Marokko und wollte auf keinen Fall zulassen, dass die französische Regierung unilateral auf eine Weise vorging, die den deutschen Interessen in der Region schadete.
Der deutsche Standpunkt hatte nach dem Völkerrecht eine gewisse Berechtigung: Ein internationales Abkommen von 1881 hatte Marokko förmlich als ein Gebiet anerkannt, dessen Zugehörigkeit nur durch einen internationalen Vertrag geregelt werden konnte. Letztlich verfolgte die deutsche Politik jedoch schlichtweg das Ziel, die Stärke der Entente auf die Probe zu stellen. Meldungen aus London gaben Anlass zu der Annahme, dass sich die Briten nicht verpflichtet fühlen würden, bei einem Streit zwischen Frankreich und einer dritten Macht um Marokko zu intervenieren. 65 Das würde wiederum Frankreich daran erinnern – wie Wilhelm salopp formulierte -, dass »eine Flotte keine Räder« hat. Diese Einsicht sollte Frankreich dazu bringen, seinen Widerstand gegen eine Einigung mit Deutschland abzuschwächen. 66 So gesehen, kann man den Vorstoß in der Marokko-Frage als »westliche« Variante der Annäherungsversuche an Russland in den Jahren 1904/05 werten.
Wilhelm hatte nie ein ernstes, politisches Interesse an Marokko. 67 Deshalb reagierte er nicht gerade begeistert, als Holstein und Bülow auf die Idee kamen, dass der Kaiser eine für März 1905 geplante Kreuzfahrt im Mittelmeer zu einem offiziellen Besuch bei den marokkanischen Behörden in Tanger nutzen sollte. Damit würde er demonstrativ die Entschlossenheit der deutschen Regierung unter Beweis stellen, die Souveränität des Landes zu wahren und die deutschen kommerziellen Interessen dort zu verteidigen. Seine Hauptsorge könnte durchaus die Befürchtung gewesen sein, dass das Risiko eines Krieges mit Frankreich einfach zu hoch sei. Unmittelbar bevor Wilhelm am 22. März 1905 mit Kurs auf Tanger (über Portugal) in See stach, hielt er in Bremen eine vielbeachtete Rede, die eindeutig versöhnliche Signale an Frankreich aussandte (und damit der offiziellen Linie der deutschen Politik die Spitze nahm):
Ich habe Mir gelobt, auf Grund meiner Erfahrungen aus der Geschichte, niemals nach einer öden Weltherrschaft zu streben. […] Das Weltreich, das ich mir geträumt habe, soll darin
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