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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
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Besetzung von Fez in einem Licht wahrnahm, das den Zielen der deutschen Politik diente. Wie schon so oft sah Wilhelm sich in den Händen eines einflussreichen und unabhängigen Untergebenen: Kiderlen-Wächter war ursprünglich von Bethmann Hollweg für das Amt des Außensekretärs nominiert worden, gegen den Willen des Kaisers. 77 Er entpuppte sich als autokratischer, willensstarker Politiker, der sich nur selten dem Kanzler beugte und sich die schwache Zentralregierung im Reich zunutze machte, um eine Art »schwäbischer Bismarck« zu werden. Der wohl erstaunlichste Aspekt an Kiderlen-Wächters Krisenmanagement im Sommer 1911 war seine Bereitschaft, die öffentliche Meinung für sein Programm zu mobilisieren. Der Außensekretär agitierte mit Hilfe seiner Kontakte zum ultranationalistischen Alldeutschen Verband für eine energischere Marokkopolitik und löste damit eine konzertierte, chauvinistische Kampagne in der rechten Presse aus. Die Handlungsfreiheit des Kaisers wurde dadurch noch stärker eingeengt, weil er ebenso ungern die öffentliche Meinung in Deutschland »enttäuschen« wie Frankreich provozieren wollte.
    Langfristig schadete die Zusammenarbeit Kiderlen-Wächters mit der chauvinistischen Presse dem Ansehen sowohl der Regierung als auch des Monarchen. Bei den völlig übertriebenen Erwartungen war es schwierig, die bescheidene territoriale Kompensation zu rechtfertigen, mit der die Regierung sich am Ende zufrieden gab. Als Folge wurde Wilhelm persönlich seitens der nationalistischen Rechten verunglimpft. Am 4. August erklärte die Berliner Tageszeitung Die Post, dass das »ganze Wesen« der Marokkopolitik »Furcht und Charakterschwäche [und] Feigheit« widerspiegle.
     
    Ist Preußen anders geworden, ist das alte Preußentum zugrunde gegangen, sind wir ein Geschlecht von Weibern geworden […]? Was ist mit den Hohenzollern geschehen, aus denen einst ein Großer Kurfürst, ein Friedrich Wilhelm I., ein Friedrich der Große, ein Kaiser Wilhelm I. hervorgegangen ist? Der Kaiser soll die stärkste Säule der englischen und französischen Politik sein. […] Guillaume le timide, le valeureux poltron! [Wilhelm, der Zahme, der tapfere Feigling] 78
    Dieser Artikel fand keineswegs einmütige Unterstützung, wegen seiner Respektlosigkeit wurde er sogar weithin verurteilt, aber ähnliche Ansichten waren in den oberen Rängen des Militärs zu hören, wo verächtlich über den »Friedenskaiser« gesprochen wurde, der es versäumt hatte, die Ehre seines Vaterlands zu verteidigen. 79 Im August 1911 stellte der talentierte, junge Offizier Erich von Falkenhayn, der Kommandeur eines Garderegiments und persönlicher Schützling des Kaisers, in einem Brief an einen Freund fest, dass sich in Deutschland nichts ändern werde, »insofern [der Kaiser] nach wie vor das Äußerste abzuwenden entschlossen ist«. 80 Im März des folgenden Jahres, in einer Ruhephase, die nach der Beilegung der Marokkokrise eingesetzt hatte, notierte Falkenhayn, dass der Kaiser immer noch »fest entschlossen [ist], den Frieden unter allen Umständen zu erhalten«. Er fügte voller Bedauern hinzu: »Und in seiner ganzen Umgebung befindet sich kein Mensch, der ihn von diesem gefährlichen Entschluss abzubringen vermochte.« 81

Wilhelms Einfluss
     
    Bis zu welchem Grad kann nun Wilhelm dafür verantwortlich gemacht werden, dass das Deutsche Reich in dieser Phase in eine immer größere Isolation trieb? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir unterscheiden zwischen dem Einfluss, den er auf den Entscheidungsprozess der deutschen Regierung nehmen konnte, und seinem Einfluss auf das breitere, internationale Umfeld, in dem die deutsche Politik operieren musste.
    Die Hauptschwierigkeit bei der Bewertung von Wilhelms Einfluss auf die deutsche Politik liegt in der Tatsache, dass seine Intentionen alles andere als konsequent waren. Wenn Wilhelm während seiner ganzen Herrschaft eine klare und in sich stimmige »politische Vision« verfolgt hätte, dann könnte man den Einfluss einfach am Ergebnis messen. Aber Wilhelms Absichten waren stets unbestimmt. Phasenweise neigte er zu der Idee, eine kontinentale Liga unter Ausschluss Großbritanniens zu gründen, aber gleichzeitig hatte er Angst, Verpflichtungen einzugehen, die Deutschland in einen Konflikt mit Großbritannien verwickeln könnten. Deshalb bestand er auch – gegen den Rat des Auswärtigen Amtes – darauf, die Wendung »in Europa« in den Vertragsentwurf von Björkö aufzunehmen. Er war bereit,

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