Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
die Einigung von 1906 zu respektieren und dauerhaft auf alle Ambitionen in Marokko zu verzichten oder vorzugsweise Gebiete in Zentralafrika im Gegenzug für die Errichtung eines französischen Protektorats in dem Sultanat an Deutschland abzutreten. Gleichzeitig hegte die Regierung – 1911 ebenso wie 1905 – die Hoffnung, dass sich die Briten eine direkte Intervention zur Unterstützung Frankreichs zweimal überlegen und damit die Glaubwürdigkeit der Entente untergraben würden. Die Historiker sind sich nicht einig, ob Kiderlen-Wächters Marokko-Politik zu einem bestimmten Zeitpunkt auch die Möglichkeit eines Kriegs gegen Frankreich einschloss und ob er Bethmann Hollwegs Unterstützung hatte, als er dieses Risiko einging. 73 Kiderlen-Wächter zog zwar eindeutig die territoriale Lösung einer militärischen vor, doch es besteht kaum ein Zweifel daran, dass er den Abschreckungseffekt des (wahrgenommenen) Kriegsrisikos als Voraussetzung für einen deutschen Erfolg einkalkulierte. Jedenfalls endete die Politik in einem Fiasko: Statt einen Rückzieher zu machen, machte die britische Regierung unmissverständlich deutlich, dass sie ihrem Entente-Partner beistehen werde. Die Krise wurde mit einem Vertrag beigelegt, der die französische Herrschaft in Marokko bestätigte. Im Gegenzug mussten die Deutschen sich mit großen, aber wirtschaftlich wertlosen Streifen von Französisch-Kongo zufrieden geben.
An den Entscheidungen, die die Krise auslösten, war Wilhelm nicht stärker beteiligt als im Jahr 1905. Tatsächlich hatte er zu Beginn die französische Intervention in Fez sogar begrüßt, weil er glaubte, sie werde zur Stabilisierung des Sultanats beitragen. In den Wochen nach der Besetzung war der begeisterte Hobby-Archäologe Wilhelm mit Ausgrabungen auf der Insel Korfu beschäftigt: Das wichtigste Ereignis im April 1911 war für ihn die Entdeckung eines antiken Gorgonenhauptes. Er hatte nicht das geringste Interesse daran, eine Antwort der Regierung auf die Ereignisse in Marokko zu formulieren. 74 Indem Bethmann Hollweg und Kiderlen-Wächter ihm ihre Pläne geschickt schmackhaft machten, gelang es den beiden, ihn zu überzeugen, dass man Frankreich stärker unter Druck setzen müsse. Ende Juni, nachdem die Verhandlungen zwischen Kiderlen-Wächter und dem französischen Botschafter in Berlin keine konkreten Ergebnisse gebracht hatten, ermächtigte Wilhelm den Kanzler, ein deutsches Kanonenboot nach Agadir zu entsenden. Die Panther, ein wenig beeindruckendes Boot, das schon seit zwei Jahren schrottreif war, ging am 1. Juli 1911 vor der südmarokkanischen Küste vor Anker.
War Wilhelm jemals bereit, wegen Marokko einen Krieg zu riskieren? Alle Hinweise lassen das Gegenteil vermuten: Im Mai teilte er König Georg V. bei einem Besuch in London mit, dass Deutschland nicht die Absicht habe, in den Krieg zu ziehen. Die Entsendung des Kriegsschiffes sollte den Eindruck einer stillen, aber starken, deutschen Präsenz in dem Sultanat erwecken, wie er später selbst sagte. 75 Die Auffassung, dass die Demonstration vor Agadir als politisches Signal gedacht war, statt als aggressiver Akt, wird allem Anschein nach durch den Umstand untermauert, dass Wilhelm beschloss, weder Admiral Tirpitz noch andere Marinekommandanten zu Rate zu ziehen. Als der Chef des Marinekabinetts Protest einlegte, erwiderte Wilhelm knapp: »Armee und Marine werden in der Politik nicht gefragt. Das wäre noch besser.« 76 Als die Krise nach Eintreffen der Panther allmählich eskalierte und aus Großbritannien Drohungen und Warnungen zu hören waren, bekam Wilhelm rasch kalte Füße. Nur mit einer Rücktrittsdrohung konnte Kiderlen-Wächter die Erlaubnis erlangen, weiterhin von Frankreich Zugeständnisse zu fordern. Wilhelm lenkte ein, ermahnte ihn aber, dass die deutschen Forderungen so maßvoll sein müssten, dass ein Konflikt vermieden werde. Von Zeit zu Zeit schäumte Wilhelm in Gesprächen vor Wut über die Unnachgiebigkeit der Franzosen, aber er war an den Verhandlungen um eine Kompensation, die sich bis in den Herbst 1911 hinzogen, so gut wie unbeteiligt. Auf die Meldung, dass eine Einigung erzielt worden sei, reagierte er, trotz der angebotenen bescheidenen territorialen Entschädigung, mit unverhohlener Erleichterung.
Die Zweite Marokkokrise machte deutlich, dass Wilhelms Macht, die Agenda in der Außenpolitik zu gestalten, weiterhin eng begrenzt war. Er musste erst von seinen höchsten Beratern »instruiert« werden, ehe er die französische
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