Wilhelm Tell
kurzerhand verbieten. Es sollte nach seinem Wunsch von der Bühne wie aus dem Schulkanon
verschwinden, weil Hitler der individualistischen Haltung Tells und seines Handelns zutiefst misstraute. „‚Der Starke ist
am mächtigsten allein‘, hatte Hitler einst über das 8. Kapitel des zweiten Bandes von ‚Mein Kampf‘ geschrieben, doch am 4. Februar 1942 während eines Tischgesprächs erklärte er: ‚Ausgerechnet Schiller mußte diesen Schweizer Heckenschützen verherrlichen.‘“
(vgl.
Klassiker in finsteren Zeiten 1933 – 1945
. Marbacher Kataloge 38, 2 Bde. Marbach 1983, Bd. 2, S. 31) Vergleichbar stark war dieses Misstrauen gegen Tells individualistische Anwandlungen nur im Gegenlager ideologischer Verabsolutierung
des 20. Jahrhunderts, wenngleich der real existierende Sozialismus sich mit keinem generellen Verbot von Schillers populärstem Drama
lächerlich machte.
Das Schauspiel
Wilhelm Tell
behauptet sich auch heute bei gedämpfter Popularität durch Aktualisierung oder in kritischer Ausleuchtung eines durchaus problematischen
Charakters auf den Bühnen, wie Inszenierungen von Claus Peymann im Burgtheater in Wien (1989), Christoph Schroth in Schwerin
(1989) oder Frank Castorf in Basel (1991) bewiesen. Die Kritik kann bis zur DenunziationTells als Spießbürger gehen, wobei auch schon die Zeitgenossen eine gewisse Biedermeierlichkeit der Figur nicht gänzlich übersehen
hatten. „Es tut mir leid um den guten Tell“, schrieb schon 1828 Ludwig Börne (1786 – 1837) im 52. Stück seiner
Dramaturgischen Blätter
, „aber er ist ein großer Philister.“ Seinen Einwänden zum Trotz bestätigte Börne zu guter Letzt jedoch unverdrossen: „ Wilhelm
Tell bleibt aber doch eines der besten Schauspiele, das die Deutschen haben.“
Schiller selbst war sich der Stärken und des Erfolgs seiner letzten vollendeten dramatischen Arbeit durchaus bewusst. In einem
Brief vom 12. April 1804 bescheinigt er sich auf bewundernswert bescheidene Weise seine Reife als Dramatiker: „Der Tell hat auf dem Theater
einen grösseren Effect als meine andern Stücke, und die Vorstellung hat mir große Freude gemacht. Ich fühle, daß ich nach
und nach des theatralischen mächtig werde.“
Dieses Reifezeugnis ist gleichzeitig die Bekräftigung, dass es ihm endlich auch gelungen war, nicht nur den Historiker als
Geschichtsdramatiker zu überrunden, sondern versifizierte Geschichtsschreibung im theatralischen Medium überzeugend in eine
Darstellung des Ideals der historischen Entwicklung zu befreien. Die aus dem Besonderen des geschichtlichen Einzelfalles gegriffenen
Handlungselemente wurden glücklich zum Beispielfall einer allgemeinen Menschheitsgeschichte transformiert. Nur als dieses
Doppelmuster konnte das Schauspiel in der Schweiz einerseits so vollkommen den von der Volksüberlieferung als Nationalmythos
kanonisierten Sagenstoff repräsentieren, als andererseits auch einem internationalen Bedürfnis entsprechen, das einen apotheotischenGesang der Freiheit jenseits enger patriotischer Verklärungen wünschte.
Börne hatte sich nicht getäuscht; Schillers
Wilhelm Tell
blieb der Wurf schlechthin unter allen Versuchen in Sachen Tell. Bis heute konnte sich kein nennenswertes Beispiel etablieren,
das an Schiller zu messen wäre. Die Popularität schloss natürlich Bearbeitungen des Stoffes in großer Zahl nicht aus, brachte
zahlreiche Vertonungen mit dem mythischen Helden im Zentrum – Gioacchino Rossinis Opernversion
Guillaume Tell
(1829) nach Schiller hat noch immer als die erfolgreichste zu gelten –, aber sie alle blieben ohne große Bedeutung und Wirkung. Der Film bemächtigte sich ebenfalls in mehreren Produktionen zwar
des Stoffes, vermied aber eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Drama. Selbst Max Frischs Erzählung
Wilhelm Tell für die Schule
, die 1971 erschien und eine durchaus beachtenswerte neue Sicht der alten Mythe anbot, machte um Schillers Drama einen Bogen.
Sie denunziert weder den Dichter noch ersetzt sie
Wilhelm Tell
als Schullektüre; eine flankierende Lektüre der Variante des Schillerpreisträgers erweist vielmehr das Schauspiel von Freiheit
und Menschenwürde als ganz und gar unverzichtbar, seine politischen und kritischen Impulse als nach wie vor höchst lebendig
und aktuell.
Informationen zum Buch
Souverän verknüpft Schiller im ›Wilhelm Tell‹ zwei Geschehnisse der Schweizer Geschichte: die Tellsage
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