Will Trent 01 - Verstummt
hallte.
Will rannte auf der Treppe an Michael vorbei, packte das Geländer und schwang sich über den Treppenabsatz. Er hörte weitere Schreie, und ein anderes Kind kreischte »Hilfe!«, als er die letzte Treppe hinunterrannte und die Tür aufstieß.
»Hilfe!«, schrie ein kleiner Junge, der, verfolgt von einem Mädchen, über den Parkplatz rannte.
»O Scheiße...«, zischte Michael beim Einatmen. Er keuchte vom Rennen. »Mannomann«, brummte er beim Ausatmen und beugte sich vor.
Der Junge flitzte auf ein kleines Rasenstück zu, auf dem die Briefkästen des Gebäudes standen. Er hatte sie einmal umkreist, als das Mädchen ihn einholte. Als Will die beiden erreichte, saß sie auf seinem Rücken.
»Gib's mir zurück!«, schrie sie und stieß ihrem Gefangenen die Faust in die Niere.
»Aua«, ächzte der Junge.
»Hört auf«, sagte Will. »Na komm.« Er fasste das Mädchen sanft am Arm.
Sie riss sich von ihm los und blaffte: »Das geht dich nichts an, du Trottel.«
»Schon gut«, meinte Will und kniete sich hin, um mit dem Jungen zu reden. »Alles in Ordnung mit dir?«
Der Junge drehte sich auf den Rücken. Will vermutete, dass ihm beim Sturz die Luft weggeblieben war. Er half ihm, sich aufzusetzen, weil dies normalerweise das Atmen erleichterte. Der Bursche war neun oder zehn Jahre alt, trug aber Klamotten, die einem Erwachsenen besser gepasst hätten. Sogar die Schuhe waren zu groß für seine Füße.
Will fragte das Mädchen: »Sag mir, was passiert ist.«
»Er hat mir mein...« Die Kleine verstummte, als sich Michael zu ihnen gesellte. Mit offenem Mund und schreckensstarren Augen starrte sie ihn an.
»Schon gut«, sagte Michael zu ihr und streckte die Hände aus. Das Mädchen hatte Will nicht als Polizisten erkannt, aber Michael hätte ebenso gut ein Schild mit der Aufschrift »Bulle« um den Hals tragen können. Wahrscheinlich hatte man ihr eingebläut, dass man mit Polizisten nicht sprach.
Sie trat einen Schritt zurück, griff nach ihrem Bruder und zerrte ihn am Arm hoch. »Lassen Sie uns in Ruhe. Wir haben Ihnen nichts zu sagen.«
Michael deutete auf den Jungen. »Ist das dein Bruder?« Er lächelte ihn an. »Wie heißt du, Kumpel? Ich habe einen Sohn, der ungefähr so alt ist wie du.«
»Rede nicht mit ihm«, warnte ihn das Mädchen.
»Wir sind nicht hier, um euch mitzunehmen«, beruhigte sie Will. Sie sah aus wie dreizehn oder vierzehn, aber so, wie sie ihre kleinen Fäuste ballte, wollte er lieber nicht auf dem Boden sitzen, wenn sie wütend wurde und ausholte.
Er sagte: »Wir untersuchen was Schlimmes, das am Sonntagabend hier passiert ist.«
»Leesha«, entfuhr es dem Jungen, doch das Mädchen drückte ihm die Hand auf den Mund. Er wand sich zornig. Offensichtlich wollte der Kleine etwas sagen, doch das Mädchen ließ es nicht zu.
»Wie heißt du?«
»Wir haben nichts zu sagen«, wiederholte das Mädchen. »Wir haben am Sonntagabend nichts gesehen. Nichts gesehen. Oder, Cedric?«
»Du hast gesagt...«, begann der Junge, aber sein Mund wurde wieder von ihrer Hand verschlossen, bevor er noch mehr herausbrachte.
Mit gesenkter Stimme fragte Michael Will: »Wen wollen Sie?« »Ihre Entscheidung«, entgegnete Will. »Sind Sie sicher?« Will nickte.
»Na gut.« Michael hob die Stimme. »Mädchen, das ist das letzte Mal, dass ich dich das frage. Wie heißt du?«
Ihre Miene blieb trotzig, aber sie antwortete: »Jasmine.«
»Ein hübscher Name«, bemerkte Michael. Als sie darauf nicht reagierte, legte er wieder mehr Autorität in seine Stimme. »Du kommst jetzt mit mir.«
»Du kannst mich mal.«
Michael warf Will einen Blick zu. »Hast 'ne ganz schön freche Schnauze, kleines Mädchen.« »Bin nicht dein kleines Mädchen.«
»Süße, willst du das wirklich auf die harte Tour?« Michael stemmte die Hände in die Hüften. Die Geste wirkte fast feminin, wenn sich dabei nicht sein Jackett verschoben hätte, so dass die Neun-Millimeter im Halfter sichtbar wurde. Ein typischer Polizistentrick: schnell einschüchtern und immer wieder einschüchtern. Es funktionierte. Angst blitzte in ihren Augen auf, und sie senkte den Blick. Plötzlich war alle Streitlust verschwunden.
Nun blinzelte Michael Will tatsächlich zu, als wollte er sagen:
»So macht man das.« Dann fragte er Jasmine: »Ist eure Mutter zu Hause?«
»Sie ist in der Arbeit.«
»Wer passt auf euch auf?«
Sie murmelte irgendetwas.
»Wie war das?«
Sie schaute kurz zu dem Jungen. »Ich habe gefragt, was mit Cedric passiert.«
»Er
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