Will Trent 01 - Verstummt
als fünfzig Kilo schwer. Michael brachte mindesten vierzig Kilo mehr auf die Waage. Das war, als würde man ein kleines Hündchen treten.
»Ich war fünfzehn, als ich ihn kennenlernte«, sagte Gina. Sie beugte sich über das Waschbecken und betrachtete ihre Lippe im Spiegel. »Er interessierte sich für meine Cousine. Sie war ein Jahr jünger als ich. Ich dachte, ich könnte sie beschützen.«
Angie wusste, dass sie sie besser reden ließ.
»Er war so süß«, fuhr Gina fort. »Er schickte mir diese Briefe, als er am Golf war, redete davon, wie sehr er mich liebe und dass er sich um mich kümmern wolle.« Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. »So sieht es aus, wenn er sich jetzt um mich kümmert.«
Angie wühlte ihn ihrer Handtasche. »Am Anfang sind sie alle süß.«
»Bist du dir da ganz sicher?«
»Hab sogar das blutfleckige T-Shirt noch.«
Gina zog ein Papiertuch aus dem Spender und befeuchtete es unter dem Hahn. »Nach Tims Geburt«, sagte sie, »änderte sich alles. Plötzlich wurde er wegen jeder Kleinigkeit wütend. Er wollte mich nicht mehr anrühren. Abends ging er oft aus dem Haus und blieb Stunden weg.« Sie tupfte sich die blutige Lippe mit dem feuchten Tuch ab. »Manchmal blieb er das ganze Wochenende weg. Wenn ich dann auf den Tacho schaute, war er fünf- oder sechshundert Meilen gefahren.«
Angie fand, wonach sie in ihrer Handtasche gesucht hatte. »Wohin fuhr er dann?«
»Wenn man oft genug ins Gesicht geschlagen wird, stellt man keine Fragen mehr.«
»Dreh dich mal zu mir um«, sagte Angie. Sie tupfte ein wenig Grundierung auf das Schwämmchen und strich damit über die verfärbte Schwellung an Ginas Auge. »Das ist Clinique«, erklärte sie. »Nimm einen helleren Ton als den, den du normalerweise verwendest, und verreib es am Rand mit der restlichen Grundierung, dann sieht man den Fleck nicht so.«
»Hat er dich auch geschlagen?«
»Nein«, antwortete Angie, noch auf das blaue Auge konzentriert. Tatsächlich war Angie so betrunken gewesen, das sie nicht mehr genau wusste, was
Michael getan hatte. Sie wusste nur, dass sie am nächsten Morgen auf dem Rücksitz ihres Autos mit tiefen Zahnabdrücken auf dem Busen aufgewacht war und mit Schmerzen zwischen den Beinen, die ein paar Wochen lang nicht verschwanden.
Es war nicht das erste Mal, dass ihr etwas Schlimmes geschehen war, aber das erste Mal mit einem Kerl aus der Arbeit.
»Er sagte dann oft, dass er mit Ken zusammen gewesen ist.«
»Wozniak?«, fragte Angie. Michaels Partner im Morddezernat. »Was wollte er denn mit Ken gemacht haben?«
»Er sagte, dass sie in den Bergen beim Fischen waren.«
Angie presste die Lippen zusammen und verkniff sich einen Kommentar. Sie konnte sich Ken nicht mit einer Angelrute vorstellen, und auch wenn sie das könnte, war Ken nicht gerade Michaels Typ.
Gina senkte die Stimme. »War er grob zu dir?«, fragte sie beinahe flüsternd.
Angie nickte. Mit den Fingern hob sie Ginas Kinn an, so dass sie ihre Arbeit im Licht begutachten konnte.
»Er ist ein Scheißkerl«, sagte Gina noch immer sehr leise. »Ich will einfach nur weg.«
Angie tupfte noch ein wenig mehr Grundierung auf. »Du hast ihn verlassen?«
»Vor zwei Tagen.«
»Wo wohnst du jetzt?«
»Bei meiner Mutter«, antwortete sie. »Er hat gedroht, mich zurückzuholen.«
Angie prüfte das Ergebnis noch einmal. Perfekt. »Hast du ihn angezeigt?«
Sie lachte. »Du als Polizistin weißt, wie sinnlos das wäre.«
»Das ist doch Blödsinn«, entgegnete Angie. »Geh aufs Revier im DeKalb County und zeig ihn dort an. Denen ist es egal, ob er Polizist ist. Die schauen dich nur einmal an und schnappen sich ihn sofort.«
»Und dann?«, fragte Gina. »Was passiert, wenn er wieder rauskommt?«
»Beantrage eine Unterlassungsverfügung.« »Schau dir mein Gesicht an. Glaubst du, dass so eine Verfügung ihn davon abhält?«
Damit hatte sie nicht ganz unrecht. Angie dachte an ihre Tage in Uniform. Sie erinnerte sich noch sehr lebhaft daran, wie sie einmal eine blutverschmierte Unterlassungsverfügung aus der Hand einer Frau gezogen hatte, die von ihrem Mann zu Tode geprügelt worden war. Er hatte einen Hammer benutzt. Die Kinder hatten zugesehen.
Gina wusch sich am Waschbecken die Hände. »Warum bist du hier?«
»Ich wollte, dass du Michael eine Botschaft übermittelst.«
Sie drehte den Hahn zu und nahm sich ein Papiertuch, um die Hände damit abzutrocknen. »Glaubst du, dass er auf mich hört?«
»Nein«, gab Angie zu. Sie zog eine Visitenkarte
Weitere Kostenlose Bücher