Will Trent 01 - Verstummt
einem Mann bemerkt hatte. Sie waren von einem sanften, zarten Braun. John war ein kräftiger Kerl, fast so groß wie Will, aber mit breiterer Brust und viel mehr Selbstvertrauen. Trotz des kühlen Wetters war sein Gesicht gebräunt, und er hatte goldene Strähnen in den Haaren, weil er den ganzen Tag draußen arbeitete.
»Auch du siehst gut aus«, sagte sie.
Er lächelte erneut, und wieder hatte sie den Eindruck, er wolle nicht mehr, als den ganzen Tag hier zu stehen und mit ihr zu reden.
Was für Lügen würde sie ihm erzählen? Wie lange würde es dauern, bis sie mit John in eine Besenkammer oder ein Badezimmer ging, mit ihm vögelte und ihn dann hasste, weil er sie gefickt hatte? Wie lange würde es dauern, bis sie auch sein Leben kaputt machte?
Sie fragte: »Warum warst du im Knast?«
Seine Schultern sackten nach unten.
Angie hatte seinen Bewährungsbogen bereits gelesen, aber der hatte ihr nur die Straftatbestände genannt, nicht die Details des Verbrechens. »Sag mir, was du getan hast.«
»Das willst du nicht wissen.«
»Ich hatte gestern Abend einen Vertreter für Aluminiumverkleidungen, der wollte, dass ich an seinen Zehen nuckle und ihn Daddy nenne. Glaubst du, du kannst mir etwas erzählen, das mich noch schockiert?«
»Ich habe ein paar Fehler gemacht.«
»Wir machen alle Fehler.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich will nicht darüber reden.« »Du warst lange drin«, meinte sie. »Hast du jemanden umgebracht?«
Er leckte sich nervös die Lippen. Er war Will so ähnlich, dass sie Brüder hätten sein können. Mann, wenn man überlegte, was für eine Schlampe Wills Mutter gewesen war, waren sie vielleicht sogar Brüder.
John sagte nun: »Ich sollte jetzt wieder zu Ray-Ray und aufpassen, dass er sich nicht in Schwierigkeiten bringt.«
Angie ließ ihren Blick durch die Glastür wandern. Gina Ormewood stand bei den Rauchern, und ihre blaue Schwesterntracht bildete einen scharfen Kontrast zu der Zigarette, die zwischen ihren Lippen steckte.
»War wirklich schön, dich zu sehen«, meinte John.
»Pass auf dich auf.«
Er wandte sich zum Gehen, blieb dann aber noch einmal stehen. »Wenn das vorbei ist«, sagte er und breitete die Hände aus, als wäre etwas Greifbares zwischen ihnen. »Wenn das, was gerade läuft, vorbei ist«, wiederholte er und wirkte dabei ein bisschen dumpf, »könnten wir ja vielleicht einmal zum Essen gehen? Oder ins Kino?«
»John«, entgegnete sie. »Meinst du, dass es wirklich einmal so weit kommt?«
Er schüttelte den Kopf, erklärte aber trotzdem: »Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, Robin. Das ist es, was mich am Leben hält. Ich will mir vorstellen können, dass ich einen Film mit dir sehe, dir Popcorn kaufe und bei den unheimlichen Teilen vielleicht sogar deine Hand halte.«
»Es wäre billiger, wenn du mir einfach das Geld gibst, damit ich deine unheimlichen Teile halte.«
Er nahm ihre Hand in die seine. Sie war verblüfft und sprachlos, als er sie an seine Lippen führte und sanft küsste. »Überleg dir einen Film, den du sehen willst«, sagte er. »Irgendwas wirklich Unheimliches.«
Dann war er verschwunden.
Angie lehnte sich an die Wand. Sie atmete lange aus. Wieder ein absolut liebenswerter Mann, den sie ruinierte. Okay, er war ein absolut liebenswerter Pädophiler und Mörder, aber von wegen Glashaus und so weiter.
Gina Ormewood trat durch die Schiebetür. Sie stutzte, als sie Angie sah, ging aber weiter auf die Notaufnahme zu.
»Hey«, sagte Angie. »Moment mal.«
Gina blieb stehen, drehte sich aber nicht um, sagte nur: »Ich will in Ruhe gelassen werden.«
Angie ging um die Frau herum, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Gina hatte eine aufgeplatzte Lippe. Das linke Auge war so verfärbt und geschwollen, dass schon der Anblick wehtat. Kein Wunder, dass der Kerl an der Anmeldung Michael hasste.
Angie fragte: »Was ist passiert?«
»Bin gestürzt«, antwortete Gina. Sie wollte weitergehen, aber Angie versperrte ihr den Weg. »Hat er Sie geschlagen?« »Was glauben Sie denn?« »O Mann.«
Gina kniff die Augen zusammen, erst jetzt erkannte sie Angie wieder. »Du hast mit meinem Mann gefickt.«
»Ja, stimmt.« Lügen hatte keinen Zweck. »Falls es ein Trost ist, ich hatte schon Bessere.«
Gina lachte und verzog dann das Gesicht, weil ihre Lippe wieder aufgeplatzt war. »Gott«, stöhnte sie. »Lass uns da reingehen.«
Sie stieß die Tür zur Damentoilette auf, und Angie folgte ihr. Gina war zierlich, knappe eins sechzig in Turnschuhen und weniger
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