Will Trent 01 - Verstummt
aus ihrer Handtasche. »Ich geb dir meine Telefonnummer. Ruf mich an, wenn er dir irgendwas tut.«
Gina nahm die Karte nicht. »Er wird tun, was immer er will. Ein Anruf wird mich nicht retten.« Sie betrachtete sich im Spiegel, strich sich die Haare glatt. »Danke für das Make-up. Clinique?« Angie nickte. »Ich besorge es mir heute in der Mittagspause. Wenn Michael herausfindet, dass ich mit dir geredet habe, werde ich es wahrscheinlich brauchen.«
»Ich verrate es ihm nicht.«
Gina lehnte sich gegen die Tür und schob sie auf. »Er findet es heraus«, entgegnete sie. »Er findet immer alles heraus.«
Angie blieb noch ein paar Minuten in der Toilette, um die Fassung wiederzuerlangen. Sie wollte mit Will reden, aber was sollte sie ihm sagen? Ich war im Krankenhaus, um Michaels Frau einzuschüchtern? Er prügelt sie grün und blau, ach, und übrigens, mit mir war er in dieser einen Nacht so grob, dass ich einen Monat lang nicht richtig pinkeln konnte? Wie bei jedem anderen Gefühl, hatte Will auch gelernt, sein aufbrausendes Temperament zu zügeln. Doch Angie wusste, dass es existierte, dass es knapp unter der Oberfläche nur auf etwas wartete, das es zum Ausbruch brachte. Wenn Angie ihm je erzählte, was ihr mit Michael Ormewood wirklich passiert war, würde Will ihn umbringen.
Ein junges Mädchen kam in die Toilette, sah Angie und ging schnell wieder hinaus. Na, wenn das keine Aufmunterung war. Angie betrachtete ihr Spiegelbild, das dicke Make-up, den superkurzen weißen Kunstlederrock und das pinkfarbene Haltertop, das kaum ihre Titten bedeckte. Kein Wunder, dass die Leute Angst vor ihr hatten.
Sie trat in den Gang und schaute zur Tür der Notaufnahme. Tank hielt Gina an den Händen und redete mit ihr. Angie hörte nicht, was er sagte, aber sie konnte es sich gut vorstellen. Plötzlich fing Gina an zu weinen, und der Mann nahm sie in den Arm. Angie beobachtete sie noch eine Weile, kam sich dabei zwar wie ein Voyeur vor, konnte aber auch nicht den Blick abwenden.
Eine Therapeutin hatte Angie einmal gesagt, dass sie sich immer Männer aussuche, die sie misshandelten, weil dies das Einzige sei, was sie je erlebt habe. Dieselbe Therapeutin hatte auch gemeint, der Grund, warum sie Will immer wieder verletze, sei der, dass sie ihn wütend machen, ihn so weit
bringen wolle, dass er sie schlage; erst dann könne Angie sich ihm endlich öffnen und ihn wirklich lieben.
Natürlich hatte Angie die Therapeutin in Bezug auf ihre Beziehungen, in Bezug auf Will angelogen. Sie würde einer völlig Fremden nie die Wahrheit sagen. Verdammt, sie hatte inzwischen schon so viele Lügen erzählt, dass sie die Wahrheit nicht mehr erkennen würde, wenn die sie in den Arsch bisse.
Kapitel 29
11.31 Uhr
Will saß an seinem Schreibtisch und hörte sich auf seinem Recorder Angies Aufnahme von Aleesha Monroes Brief an ihre Mutter an. Er hatte sie schon so oft gehört, dass er den Wortlaut auswendig kannte, aber er wollte ihrer Stimme lauschen, ihre Modulation genießen. Manchmal schaute er beim Zuhören in den Brief und versuchte mitzulesen. Angie hasste es, laut zu lesen, und das war ihrem Ton auch anzumerken. Will dachte, wenn er so gut lesen könnte wie sie, würde er die ganze Zeit laut lesen.
Er zog sich die Stöpsel aus den Ohren und konzentrierte sich wieder auf das Diagramm, das er im Kopf gezeichnet hatte. Will sah die Dinge als Bilder, wie das Storyboard für einen Film. Jasmine Allisons Gesicht tauchte vor ihm auf. Sie war noch immer verschwunden. Die Polizei von Atlanta suchte zwar nach ihr, aber Will war sich nicht sicher, ob sie die Sache so ernst nahmen, wie er es wollte. Auch wenn sie es täten, wo sollten sie suchen? Es gab eine Million Orte, wo man ein kleines Mädchen verstecken konnte - und noch viel mehr, wenn es nicht mehr atmete.
Aleesha Monroes Mutter war nicht zu Hause; er hatte an diesem Vormittag mehrmals angerufen, bis das Hausmädchen schließlich abgehoben und ihm mitgeteilt hatte, dass Ms. Monroe erst gegen Mittag zurückerwartet werde. Will hatte auch im Revier im DeKalb angerufen und erfahren, dass es im Fall Cynthia Barrett nichts Neues gab. Er hatte sogar ein Spurensicherungsteam in die Homes geschickt und die Telefonzelle untersuchen lassen. Im Münzbehälter befanden sich nur sieben Vierteldollar, und keiner davon wies verwertbare Fingerabdrücke auf.
Keine Spuren, keine Hinweise, denen man nachgehen konnte. Er besaß nichts außer dem Brief und der Hoffnung, dass Miriam Monroe etwas wissen
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