Will Trent 01 - Verstummt
ins Foyer bugsierten. Sie hatten dunkelblaue Regenjacken an mit der Aufschrift LEICHENSCHAUHAUS in leuchtend gelben Buchstaben.
Michael rief: »Hier oben.«
»Wie weit oben?«, fragte eine der beiden.
»Sechster Stock.«
»Verdammte Scheiße«, fluchte sie.
Michael packte den Handlauf des Geländers, zog sich die nächsten Stufen hoch und hörte, wie die beiden Frauen bei ihrem Aufstieg weitere Flüche ausstießen und die Trage gegen das Metallgeländer klapperte. Im vorletzten Stockwerk spürte er plötzlich, wie sich ihm die Haare im Nacken sträubten. Sein Hemd war schweißnass, aber so etwas wie ein sechster Sinn jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Ein Blitzlicht flammte auf, und eine Kamera surrte. Michael wich behutsam einem roten Stiletto aus, der flach auf dem Boden lag, als hätte sich jemand dort hingesetzt und ihn ausgezogen. Auf der Trittfläche der nächsten Stufe sah er den perfekten Umriss einer blutigen Hand. Auch die folgenden Stufen zeigten Handabdrücke; offensichtlich war hier jemand die Treppe hochgekrochen.
Am Absatz der fünften Etage stand Bill Burgess, ein erfahrener Streifenpolizist, der so ziemlich jede Art von Verbrechen kannte, die Atlanta zu bieten hatte. Neben ihm breitete sich eine dunkle Pfütze gerinnenden Blutes aus; die Ränder zerfaserten in dünne Rinnsale, die Stufe um Stufe hinuntertropften. Michael interpretierte die Szene. Hier war das Opfer bei seinem Fluchtversuch gestürzt, hatte sich wieder aufgerappelt und dabei Blut verschmiert.
Bill schaute die Treppe hinunter, weg von dem Blut. Sein Gesicht wirkte kreidebleich, die Lippen waren ein dünner, rosafarbener Schlitz. Michael blieb stehen und dachte, dass er Bill noch nie so bestürzt gesehen hatte. Das war der Mann, der sich Chicken Wings bestellte, nachdem er kurz zuvor sechs abgetrennte Finger im Müllcontainer hinter einem chinesischen Restaurant gefunden hatte.
Die beiden Männer sprachen nicht, während Michael vorsichtig um die Blutpfütze herumging. Mit der Hand am Geländer bog Michael nun auf die letzte Treppe ein und war froh, etwas zum Festhalten zu haben, als er schließlich die Szene vor sich sah.
Die Frau war nur teilweise bekleidet. Ihr enges rotes Kleid war vorne aufgeschnitten und klaffte wie ein Morgenmantel auseinander, so dass man ihre kakaofarbene Haut und einen Streifen zu einer dünnen Linie rasierter Schamhaare, der zu ihrer Ritze führte, erkennen konnte. Ihre Brüste wirkten unnatürlich hoch angesetzt, Implantate hielten sie in dieser perfekten Form. Ein Arm war seitlich ausgestreckt, der andere lag über ihrem Kopf, und die Finger griffen nach dem Geländer, als wäre ihr letzter Gedanke gewesen, sich hochzuziehen. Das rechte Bein war am Knie abgewinkelt und gespreizt, das linke schräg weggestreckt, so dass Michael ihre Spalte direkt vor sich hatte.
Michael schottete sich innerlich gegen die Geschäftigkeit um ihn herum ab, trat noch einen Schritt auf die Frau zu und versuchte sie zu sehen, wie der Mörder sie gesehen hatte. Ihr Make-up war verschmiert, dick aufgetragener Lippenstift und Rouge in dunklen Linien, um ihre Züge zu betonen. Ihre krausen schwarzen Haare waren orangefarben gesträhnt und standen in alle Richtungen ab. Ihr Körper war hübsch, oder zumindest hübscher, als man erwartet hätte nach den Einstichnarben an den Armen, die deutlich zeigten, was sie gewesen war: eine Frau, die sich das Geld für ihre Sucht in der Horizontalen verdiente. Die Quetschungen auf den Oberschenkeln konnten sowohl von ihrem Mörder stammen als auch von einem Kunden, der es gern
grob mochte. Wenn Letzteres der Fall war, hatte sie es wahrscheinlich bereitwillig erduldet, weil sie wusste, dass sie für den Schmerz mehr Geld bekäme und mehr Geld auch mehr Lust bedeutete, wenn sie sich später die Nadel in den Arm stieß und die Wärme sich in ihren Adern ausbreitete.
Die Augen waren weit aufgerissen und starrten leer die Wand an. Eine ihrer falschen Wimpern hatte sich gelöst und klebte als dritter Wimpernbogen unter ihrem linken Auge. Die Nase war gebrochen, die eine Wange durch den zertrümmerten Knochen unter dem Auge verschoben. Licht spiegelte sich in etwas in ihrem Mund, das Michael, als er noch einen Schritt näher trat, als Blut erkannte, mit dem ihr Mund bis zum Rand gefüllt war. Die Deckenbeleuchtung glänzte in dem roten Tümpel wie ein Vollmond.
Pete Hanson, der diensthabende Leichenbeschauer, stand oben auf der Treppe und redete mit Leo Donnelly. Leo war ein
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