Will Trent 02 - Entsetzen
kam. In Wahrheit vermittelte es Abigail das Gefühl, etwas Schmutziges zu tun, als würde sie hinter Emmas Rücken deren Tagebuch lesen. Paul hatte sogar das Abonnement für die Morgenzeitung gekündigt. Offensichtlich war das Schreiben dort nicht angekommen, denn es türmten sich so viele feuchte Tüten mit Zeitungspapier am Ende ihrer Auffahrt, dass die Frau vom Nachbarschaftsverein ihnen einen Brief in den Briefkasten gesteckt hatte.
»Ich bedauere Ihr schweres Schicksal, aber Druid Hills ist ein historisches Viertel, und als solches hat es gewisse Regeln.«
»Ein historisches Viertel«, hatte Abigail die Frau nachgeäfft und sich dabei gedacht, dass die Frau einen historischen Besenstil im Arsch hatte. Sie hatte einen wütenden Antwortbrief geschrieben, voller Herablassung und Bösartigkeit. »Wissen Sie, wie es ist, zu wissen, dass ein Tier Ihr Kind vergewaltigt hat?«, hatte sie gefragt. »Glauben Sie, ich schere mich einen Dreck um Ihre beschissenen Regeln?«
Die Tirade hatte sich zu einer Art Generalabrechnung entwickelt, Seite um Seite angefüllt mit all den scheußlichen Dingen, die laut auszusprechen sich Abigail immer verkniffen hatte. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Ganze noch einmal durchzulesen, bevor sie es im Kamin verbrannte.
»Ein bisschen warm für ein Feuer«, hatte Paul gesagt.
»Mir ist kalt«, hatte sie erwidert, und damit war das Thema erledigt.
Erst seit Kurzem konnten sie überhaupt zum Briefkasten gehen, ohne dass ein Reporter jeden ihrer Schritte dokumentierte. Doch sogar die letzten, verzweifelten Massenblätter waren abgezogen, als vor ein paar Wochen in Arizona eine schwangere Frau verschwand und der Ehemann anfing, sehr verdächtig auszusehen. Abigail hatte heimlich im Fitnessräum ferngesehen, hatte die Bilder der sechsundzwanzigjährigen Brünetten betrachtet und eifersüchtig gedacht, dass Emma so viel hübscher sei als diese werdende Mutter. Dann hatte man die Frau tot auf einem leeren Grundstück gefunden, und sie war sich unbedeutend und klein vorgekommen.
Da die Reporter verschwunden waren, waren die Campanos ganz allein. Es gab in ihrem Leben nichts mehr, worüber sie sich beschweren konnten, außer übereinander, und das war ausdrücklich verboten. Emma verließ das Haus nur einmal die Woche, seit sie hierhergezogen waren. Paul brachte ihr buchstäblich die Welt an die Türschwelle. Sie hatte Hauslehrer. Ihr Yogatrainer kam ins Haus. Die Friseurin besuchte sie einmal pro Monat. Hin und wieder kam ein Mädchen, um ihr die Nägel zu machen. Kayla Alexander und Adam Humphrey waren Emmas einzige enge Freunde gewesen, es gab also keine Teenager, die an die Tür klopften. Der einzige Mensch, den Paul nicht bestechen konnte, sie zu besuchen, war ihre Therapeutin. Die Praxis der Frau lag weniger als eine Meile entfernt, und Paul fuhr Emma jeden Donnerstag dorthin und wartete dann vor der Tür, bereit, sofort hineinzustürzen, falls sie nach ihm rief.
Vater und Tochter waren sich jetzt noch näher, und Abigail fielen einfach keine Gründe mehr ein, warum er Emma nicht alles geben sollte, was sie wollte. Die Ironie war, dass sie jetzt so wenig wollte. Sie verlangte weder Kleider, Geld noch irgendwelche technischen Spielzeuge. Sie wollte nur ihren Vater an ihrer Seite haben.
Paul hatte angefangen, nur noch fünf anstatt der gewohnten sechs Tage zu arbeiten. Er frühstückte jeden Morgen mit ihnen und war täglich zum gemeinsamen Abendessen zu Hause. Es gab keine Geschäftsreisen oder spätabendlichen Essenstermine mehr. Er war zum perfekten Ehemann und Vater geworden, aber zu welchem Preis? Er war nicht mehr derselbe. Manchmal fand Abigail ihn allein in seinem Büro oder vor dem stummen Fernseher. Sein Gesichtsausdruck war ein schmerzhafter Anblick. Es war, das wusste sie, genau der Ausdruck, den auch sie in unbedachten Momenten sehen ließ.
Und dann war da noch Emma. Oft stand Abigail in der offenen Tür zu ihrem Zimmer und sah ihr einfach nur beim Schlafen zu. Das war ihr Engel von früher. Das Gesicht war glatt, die Sorgenfalten auf der Stirn waren wie wegradiert. Der Mund war nicht angespannt, die Augen nicht voller Dunkelheit. Es gab Zeiten, da kam Abigail in ihr Zimmer, und sie war bereits wach. Dann saß sie in dem Sessel am Fenster und starrte mit leerem Blick hinaus. Oder sie war irgendwo im Haus, saß weniger als drei Meter von Abigail entfernt, und doch war es so, als wäre die Zeit zersplittert und Emma wäre nicht mehr in diesem Zimmer, sondern
Weitere Kostenlose Bücher