Will & Will
entkomme; bis ich endlich nicht mehr der unscheinbare Trabant dieses unglaublich fetten Planeten bin.
Und dann erkenne ich auf einmal, was ich tun kann. Welche Waffe ich gegen ihn habe. Meine Regel Nummer zwei, die da lautet: Maul halten. Ich geh an ihm vorbei in Richtung Klassenzimmer.
»Grayson«, sagt er.
Ich antworte nicht.
Ich rede nicht mit ihm, als er sich in Mathe wie immer wundersamerweise auf seinen Platz zwängt. Und ich rede nicht
mit ihm, als er mir mitteilt, dass ich jetzt nicht mehr sein Lieblingswillgrayson bin. Ich rede nicht mit ihm, als er mir erzählt, dass er dem anderen Will Grayson in den letzten 24 Stunden 45 SMS geschickt hat, obwohl ich finde, dass das eindeutig zu viel ist. Ich rede nicht mit ihm, als er mir sein Handy unter die Nase hält und eine SMS von Will Grayson zeigt, die ich gefälligst anbetungswürdig finden soll. Ich rede nicht mit ihm, als er mich fragt, warum zum Teufel ich nicht mehr mit ihm rede. Ich rede nicht mit ihm, als er sagt: »Grayson, du bist mir einfach auf die Nerven gegangen, und ich hab das alles nur gesagt, damit du’s Maul hältst.« Ich rede nicht mit ihm, als er sagt: »Jetzt im Ernst, rede mit mir«, und ich rede immer noch nicht mit ihm, als er mir für seine Verhältnisse leise, aber immer noch laut genug, dass alle Leute ringsum es mitkriegen, sagt: »Ehrlich, Grayson, es tut mir leid. Okay? Es tut mir leid.«
Fünfzig Minuten später klingelt es und Tiny schleicht wie ein aufgequollener Schatten hinter mir aus dem Klassenzimmer und sagt: »Im Ernst, jetzt hör schon auf, das ist doch lächerlich.« Und mir geht es nicht mal mehr darum, ihn weiter zu quälen. Ich bin einfach nur glücklich und zufrieden, nicht länger die Bedürftigkeit und Hilflosigkeit in meiner Stimme hören zu müssen.
Mittags setze ich mich allein an das Ende eines langen Tischs, um den sich mehrere Mitglieder meines früheren FFM versammelt haben. Dieser Typ namens Alton sagt: »Wie geht’s, Schwuchtel?«, und ich sage »Ganz gut«, und dann sagt dieser andere Typ namens Cole: »Kommst du auch zu Clints
Party? Wird bestimmt super«, was mich zu der Überzeugung bringt, dass die beiden mich nicht wirklich verachten können, selbst wenn der eine mich gerade Schwuchtel genannt hat. Tiny Cooper als besten und einzigen Freund zu haben, bereitet einen offensichtlich nicht hinreichend auf die Besonderheiten der männlichen Umgangsformen vor.
Ich sage: »Ja, ich werd versuchen, mal vorbeizuschauen«, obwohl ich keinen blassen Schimmer habe, wann die Party stattfinden soll. Dann sagt dieser kahl rasierte Typ namens Ethan zu mir: »Hey, machst du auch bei Tinys schwulem Tuntenspektakel mit?«
»Garantiert nicht«, sage ich.
»Ich glaub, ich geh da heute Nachmittag mal hin«, sagt er, und ich brauche eine Weile, bis ich mir sicher bin, dass er das wirklich ernst meint. Alle grölen und reden auf ihn ein, jeder will als Erster seinen Spott über ihn ausschütten, aber er grinst nur und sagt: »Mädchen mögen empfindsame Männer.« Dann dreht er sich auf seinem Stuhl um und ruft zum Tisch hinter ihm, an dem seine Freundin Anita sitzt: »Ist mein Gesang nicht sexy, Baby?«
»Total, Baby«, ruft sie.
Danach blickt er uns alle befriedigt an. Die anderen ziehen ihn trotzdem weiter auf. Ich verhalte mich ruhig, aber solange bis ich mein Schinken-Käse-Sandwich aufgegessen habe, lache ich immer an den richtigen Stellen mit, was wohl bedeutet, dass ich zu ihrer heutigen Mittagsrunde ganz normal dazugehöre.
Tiny stöbert mich auf, als ich mein Tablett aufs Transportband stelle; Jane ist bei ihm, und sie gehen danach beide neben mir her. Zuerst spricht keiner von uns. Jane hat einen
olivgrünen Kapuzenpulli an und die Kapuze übergezogen. Sie sieht unverschämt großartig aus, als hätte sie den Pulli extra ausgesucht, um mich zu verhöhnen. Sie sagt: »Urkomischer Brief, Grayson. Tiny hat erzählt, dass du ein Schweigegelübde abgelegt hast?«
Ich nicke.
»Warum?«, fragt sie.
»Weil ich heute nur mit süßen Mädchen rede«, antworte ich und lächle. Tiny hat recht. Seit es den Wasserpolo-Typen gibt, fällt mir das Flirten viel leichter.
Jane lächelt zurück. »Tiny ist doch auch ein ganz süßes Mädchen.«
»Warum?« , fleht Tiny mich an, als ich in einen Korridor abbiege. Das Labyrinth aus Korridoren, die sich nur durch ihre Wildkit-Wandmalereien unterscheiden, hat mir früher immer höllische Angst eingejagt. Mein Gott, was waren das für Zeiten, als mein
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