Will & Will
Kapitel
Zehn Minuten vor dem Klingeln zur ersten Stunde sitze ich an mein Schließfach gelehnt da, als Tiny durch die Eingangshalle gerannt kommt, ein Durcheinander aus Beinen, Armen und einem riesigen Packen von Tiny-Dancer -Plakaten.
»Grayson!«, brüllt er. »Hi«, antworte ich, stehe auf, schnappe mir eins der Plakate und halte es an die Wand. Er lässt die anderen auf den Boden fallen, reißt mit den Zähnen die Schutzfolie vom Klebeband und fängt dann an, es anzukleben. Er befestigt eine Ecke nach der anderen, dann hängt das Plakat an der Wand, wir sammeln die anderen, die er fallen gelassen hat, auf, gehen ein paar Schritte weiter, und es fängt von vorne an. Und die ganze Zeit, während wir ein Plakat nach dem anderen aufhängen, redet er ununterbrochen. Sein Herz schlägt und seine Augenlider blinzeln und sein Atem geht und seine Nieren verarbeiten Giftstoffe und er redet und redet, alles unwillkürliche Reflexe.
»Tut mir echt leid, dass ich nicht mehr zu Frenchy’s zurück bin, um dich da zu treffen, aber ich hab mir gedacht, du denkst sowieso, dass ich einfach ein Taxi genommen hab, was ja auch so war, und stell dir vor, Will und ich sind zusammen zur Bohne gegangen, und, Grayson, ich glaub, ich hab das schon mal gesagt, aber ich mag ihn wirklich . Ich meine, man muss jemand wirklich mögen, sonst geht man mit ihm nicht den ganzen Weg bis zur Bohne und hört sich an, was er einem über diesen komischen Freund erzählt, den es gar
nicht gegeben hat und der noch nicht mal ein Junge war, und stell dir vor, ich hab ihm sogar was aus Tiny Dancer vorgesungen. Und, Grayson, also mal ganz ehrlich: Ist das zu fassen, dass ich tatsächlich Will Grayson geküsst habe? Ich. Habe. Will. Grayson. Geküsst. Und hey, nichts gegen dich, weil ich dir schon ungefähr eine Gigamilliarde Mal gesagt habe, dass du für mich ganz weit oben rangierst – aber ich hätte mein linkes Ei verwettet, dass ich nie mit Will Grayson rumknutschen würde, verstehst du, was ich meine?«
»Hmmh«, mache ich, aber er wartet nicht ab, ob von mir danach noch was anderes kommt, sondern legt sofort wieder los.
»Und ich krieg ungefähr alle zweiundvierzig Sekunden eine SMS von ihm und er schreibt umwerfend, was aber gar nicht nötig wäre, weil es auch nur so einfach nett ist, eine angenehme kleine Vibration an der Hüfte, nur so als Erinnerung, dass wir – da, schon wieder eine.« Ich halte weiter das Plakat an die Wand, während er sein Handy aus der Hosentasche zieht. »Oh.«
»Was schreibt er?«, frage ich.
»Rein vertraulich. Ich denk mal, er geht davon aus, dass ich nicht weiterplaudere, was er mir schreibt, du verstehst?«
Ich könnte jetzt darauf hinweisen, wie absurd es ist, ausgerechnet bei Tiny Cooper darauf zu vertrauen, dass er nichts weiterplaudert. Aber ich lass es. Er klebt das Plakat an die Wand und geht weiter. Ich folge ihm.
»Freut mich ja, dass dein Abend so großartig verlaufen ist. Bei mir dagegen, also es hat mich schon überrascht, dass Jane da auf einmal mit diesem Jungen daherkommt, diesem Wasserpolo spielenden Exfr –«
»Erstens«, unterbricht er mich mitten im Wort, »kann dir das doch egal sein, oder? Du bist ja nicht in sie verliebt. Und zweitens würde ich ihn keinen Jungen nennen. Er ist ein Mann . Ein gut gebauter, makellos geformter Vorzeigemann.«
»Hilft mir nicht unbedingt.«
»Natürlich nicht gerade mein Typ, aber er ist wirklich ein Prachtexemplar. Und erst seine Augen! Wie Saphire, die in die dunklen Winkel deines Herzens leuchten. Aber egal, ich hab jedenfalls nicht gewusst, dass sie mal zusammen waren. Ich hab noch nie von ihm gehört. Ich hab nur gedacht, sieh mal einer an, dieser toller Typ hat es auf Jane abgesehen. Jane redet mit mir nie über Jungs. Keine Ahnung, warum. Ich bin in solchen Dingen absolut vertrauenswürdig.« In Tinys Stimme schwingt an dieser Stelle Ironie mit, genau die richtige Prise, so dass ich lachen muss. Tiny redet einfach über mein Lachen hinweg. »Schon erstaunlich, was man von Leuten alles nicht weiß. Das ist mir nach dem Gespräch mit Will das ganze Wochenende durch den Kopf gegangen. Er verliebt sich in Isaac, von dem sich dann herausstellt, dass er reine Erfindung ist. Und so was passiert nicht nur im Internet, das sag ich dir, sondern tagtäglich, im ganz normalen Leben.«
»Aber Isaac ist keine Erfindung, sondern ein Mädchen. Diese Maura ist eigentlich Isaac.«
»Nein, ist sie nicht«, sagt er darauf nur. Ich halte das letzte Plakat hoch,
Weitere Kostenlose Bücher