Willenlos
wahrnehmen können, von den Ängsten des Mädchens hatte er nicht ablenken können.
Die Ermittlerin hatte sich heute Morgen zuerst mit den Kollegen unterhalten, die den Fall ›Lisa Blankenagel‹ bearbeiteten. Es gab erste Fortschritte. Die Fotos waren in der Filiale einer Drogeriemarktkette in der Krefelder Innenstadt entwickelt worden, wie die Kollegen anhand einer Kennnummer auf den Rückseiten herausfinden konnten. Die Täter hatten die Dateien per Internet übermittelt. Über die IP-Adresse versuchten ihre Spezialisten derzeit, an Name und Anschrift des Absenders zu gelangen. Karin blieb nur die Hoffnung, dass noch keine Kopien gemacht worden waren.
Ein Kollege in Uniform kam aus dem Verhörraum, grüßte freundlich und blieb vor der Tür stehen.
Leon Bartram seufzte zur Begrüßung vernehmlich. Karin setzte sich ihm gegenüber.
»Wir können leider noch nicht beginnen, Frau Seitz. Es kam etwas überraschend, mein Anwalt ist noch in einer Verhandlung.«
»Den benötigen Sie nicht mehr. Sie werden im Anschluss an dieses Gespräch entlassen.«
Leon Bartram öffnete die Augen ganz weit und nickte bedächtig.
»Sie geben auf?«
»Herr Bartram, ich möchte mich auch im Namen meiner Kollegen für die Unannehmlichkeiten, die wir Ihnen bereitet haben, entschuldigen.«
»Hm, nun ja, Ihre Schlafstätten sind verbesserungswürdig, aber das Essen war ganz passabel. Gestatten Sie mir die Frage, welchem Umstand ich die Sinneswandlung zu verdanken habe?«
Karin überkam ein Gefühl der Erleichterung. Bartram war an diesem Morgen freundlicher, zeigte weniger Häme als in den Verhören. Aber würde er auch kooperationsbereit sein?
»In Ihre Wohnung ist eingebrochen worden. Wir haben Grund zu der Annahme, dass der Täter die Medikamentenpackung dort hinterlegt hatte.«
Sie durfte nicht mit offenen Karten spielen, ein Handicap, das sie umschiffen musste. Bartram würde den Fingerabdruck vermutlich sofort der richtigen Person zuordnen.
»Das hätte ich Ihnen bereits gestern sagen können, aber was hätte es genutzt?«
Bartrams Gelassenheit wunderte Karin. Er schien sich seiner Sache vollkommen sicher. Sie hob die Stimme, als wolle sie ihn wachrütteln.
»Herr Bartram, jemand hat versucht, Ihnen einen dreifachen Mord unterzuschieben. Ist Ihnen das klar?«
»Jaja, es gibt schon gemeine Menschen. Was soll’s? In solchen Angelegenheiten vertraue ich ganz unserer Justiz.«
Der Hohn war unüberhörbar. Für Karin bestand kein Zweifel, Bartrams Überheblichkeit konnte sich einzig darauf gründen, dass er ihnen einen Schritt voraus war. Der Grund für die Verschwiegenheit war ihr ebenso klar, Bartram wollte nicht teilen, seine Rache allein und in vollen Zügen auskosten. Die Wiederherstellung seines Rufes, das Gesetz, sogar sein Leben ordnete er diesem Trieb unter. Karin wollte nicht aufgeben.
»Herr Bartram, hören wir doch auf mit den Spielchen. Sie kennen die Person, die Ihrer Meinung nach Ihre Frau getötet hat, und wollen sich an ihr rächen. Wäre sein Tod die gerechte Strafe? Sie würden noch einmal für diesen Mann ins Gefängnis gehen, wollen Sie das wirklich? Ist es nicht eine viel schlimmere Strafe, lebenslang eingesperrt zu sein? Helfen Sie uns, Ihrem Leben wieder einen Sinn zu geben, Herr Bartram.«
Bartram schwieg eine halbe Minute, wirkte nachdenklich. Karin fühlte sich wie ein erschöpfter Bergsteiger eine Elle vor dem Gipfel. Ein kräftiger Zug, eine letzte Anstrengung, eine Sekunde Überwindung. Bartram beugte sich vor.
»Rache ist ein Strom glühender Lava. Sie frisst sich unbarmherzig Stück für Stück durch den Körper. Zehrt unaufhörlich an Seele und Verstand. Sie füllt den Lebenstrieb mit ihrem diabolischen Sinn. Irgendwann kühlt sie ab, hinterlässt öde, zerklüftete Landschaften aus hartem Gestein. Kein guter Boden für Hoffnung. Ein sinnvolles Leben beginnt anders, Frau Seitz.«
»Sie sind 47 Jahre alt, stehen mitten im Leben und geben auf. Ist das Ihre Antwort? Sie wollen Ihr Leben opfern für die primitive Sucht nach Rache. Ich habe Sie für intelligenter gehalten.«
»Wer sagt denn, dass ich mein Leben opfern möchte?«
»Sie glauben doch nicht, dass wir Sie auch nur eine Sekunde aus den Augen lassen?«
Bartram lehnte sich zurück. Genießerisch schloss er die Augen, verlieh seinem Gesicht träumerische Züge. Den Kopf leicht nach hinten gelegt, öffnete er den Mund.
»Doch, Frau Seitz, das glaube ich. Vielleicht nicht in den ersten Wochen oder Monaten,
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