Willenlos
als den Verstand. Der dafür sorgte, dass er diese folgenschweren Worte sprach. Einen Satz, den sein Verstand noch aufhalten wollte, bevor er Leon Bartrams Gesicht in Stein verwandeln konnte. Es waren die Worte, die sein Leben verändern sollten. Dabei hatte er seiner These nur ein letztes Puzzleteilchen hinzufügen wollen. Ein kleines Detail, welches aber in der Lage sein sollte, den Verdacht gegen Michael Endrulat, den Assistenzarzt der Klinik, abzurunden.
Er hatte es nicht wissen können. Ein Gedanke, der im dichter werdenden Nebel, den der Alkohol durch sein Hirn trieb, unterging wie ein Kiesel im Meer und der noch einmal für den Bruchteil einer Sekunde erkennbar war, in dem Augenblick, als die Frage seinen Mund verlassen hatte.
›Wie kam Lydia eigentlich an Disoprivan?‹
Leon benötigte keine drei Sekunden, der Blick verfinsterte sich, das Gesicht nahm stählerne Züge an. Er war nicht auf die Frage eingegangen, nicht bei diesem Besuch.
Danach zählte er die Tage. Der Monat floss zäh wie dickflüssiger Brei dem Ende entgegen, die Hoffnung war von Tag zu Tag gesunken. Ein früherer Besuch wäre aufgefallen. Er erinnerte sich an die Überwindung, die es ihn gekostet hatte, auf ein Beruhigungsmittel zu verzichten. Er durfte keine Scherben mehr hinterlassen, wollte Klarheit. Was verbarg sich hinter dem frostigen Blick Leons? Er wollte ihm eine Geschichte erzählen, von einem Polizisten, der ihn kurz nach der Tat nach dem Medikament gefragt hatte. Er kam nicht dazu, Leon Bartram hatte begriffen, was er zwölf lange Jahre geahnt hatte. Unverblümt hatte Leon ihn mit den Fakten konfrontiert. In allen Protokollen, in jedem Verhör, bei jeder Verhandlung war nur von ›Propofol‹ die Rede gewesen. Es war der Wirkstoff, den sie in Lydias Magen entdeckt hatten. Von Disoprivan, dem Medikament, das diesen Wirkstoff enthielt, war nie die Rede gewesen. Vermutlich hatten die Rechtsmediziner nicht mehr alsprozessunrelevante Vermutungen. Bartram benötigte das Medikament in der Klinik. Die Probepackung eines Pharmavertreters hatte er zwischen Tür und Angel in die Tasche des Jacketts gesteckt. Erst abends in seinem Haus entdeckte er die Packung und stellte sie in den Medikamentenschrank. Lydia hatte er nichts davon gesagt.
›Dafür wirst du bezahlen‹, hatte Leon gezischt. Es waren bis heute die letzten Worte, die er direkt aus Leons Mund vernommen hatte. Voriges Jahr ertönte Leons Stimme vom Band des Anrufbeantworters.
›Ich bin draußen. Heute beginnt dein Albtraum. Und … denk nicht mal dran, ich habe mich bestens abgesichert.‹
Das Band hatte er längst gelöscht, die abgrundtiefe Stimme aus dem Bewusstsein verbannen vermochten nicht einmal Calvados und Wein. Seither quälte ihn die Frage nach der ominösen Absicherung. Es gab keine Beweise seiner Anwesenheit, dieses Versprechen hatte er teuer bezahlen müssen. Dahlmann hatte ihm die Geschichte abgekauft. Einen Mord vertuschen würde selbst der korrupteste Polizist nicht, aber den geschäftsschädigenden Skandal abwenden, als Liebhaber des Mordopfers durch die Gazetten des Landes zu geistern, das war bezahlbar. Es hatte nur einen Traum gekostet. Den Traum vom eigenen Haus, für das er jahrelang fast sein gesamtes Arztgehalt gespart hatte. Aber es hatte sich ausgezahlt, Dahlmann hatte dem Schein geglaubt. Tiefergehende Ermittlungen, die das Verfahren nur unnötig in die Länge gezogen hätten, hatte Dahlmann geschickt umschiffen können. Fingerabdrücke an entscheidenden Stellen hatte er verwischt, die Bettwäsche mit den verräterischen Spuren beseitigt. Was konnte Dahlmann vergessen haben, das ausgerechnet Leon Bartram nach so vielen Jahren herausgefunden haben will? Gar nichts, redete er sich ein, Leon blufft. Liebend gern hätte er ihn gezwungen, die Karten offenzulegen, aber der Einsatz war enorm hoch.
Manchen Abend, wenn seine Gedanken schwerfällig durch die dichten Wolken des Alkohols glitten, wollte er das lange Messer aus der Küchenschublade nehmen, wollte zu ihm, es ihm mitten ins Herz stoßen. Ihm dabei ins Gesicht schreien, dass es keine Absicherung geben könne. Der erbärmliche Rest Vernunft hatte ihn stets gewarnt, meistens. Einmal war auch diese letzte Absicherung ertrunken. Zwei Kilometer vorm Ziel nahm ihm ein überaufmerksamer Polizist den Führerschein ab. Er betrachtete es als einen gut gemeinten Wink vom Schicksal, das endlich damit begonnen hatte, etwas zurückzugeben. Noch am selben Abend hatte er den teuflischen Plan
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