Willi von Bellden (German Edition)
auch nirgendwo erreichen«, wisperte sie ihm zu.
Mein Herr und Gebieter haute weiter in die Tastatur.
»Tanner?« Annys Stimme wurde eine Spur lauter und energischer.
Keine Reaktion.
»Tanner!!«
Der Schreibtischstuhl schoss nach hinten, und Tanner starrte Anny erschrocken an.
»W… was ist los?«
Anny bedachte ihn mit einem ihrer vorwurfsvollen Blicke. Das hatte sie mindestens genauso gut drauf wie Anka.
»Selma ist am Telefon und möchte mit dir reden. Anton ist verschwunden«, wiederholte sie.
Man konnte Tanner ansehen, dass er langsam in die Welt der Sterblichen zurückkehrte.
»Ah!«, machte er und ergriff den Hörer.
Kopfschüttelnd verzog sich Miss Leseratte wieder auf ihre Couch. Neugierig geworden, dachte ich gar nicht daran, mich jetzt zu Anka und den Kleinen zu gesellen, die friedlich auf einer Decke nebeneinander im Halbschlaf lagen. Es interessierte mich viel mehr, wieso Anton verschwunden sein sollte. Anton von der Fecht, von all seinen Freunden nur Toni genannt, war ein Studienkollege von Tanner. Viele Jahre waren sie täglich miteinander zur Uni marschiert, und zeitweise hatten sie sogar zusammen mit einem dritten Kommilitonen in einer WG gewohnt. Als Anton seine Selma heiratete, war sie bereits im dritten Monat schwanger und Toni gerade fertig mit seinem Studium. Wir hatten die beiden in den letzten Jahren einige Male besucht, und ich muss sagen, sie sind äußerst angenehme und hundefreundliche Menschen. Ich durfte sogar auf ihrem Sofa nächtigen und bekam schon zum Frühstück einen wunderbaren Rinderknochen, dessen Geschmack mir bis heute im Bewusstsein geblieben ist.
»Was, verschwunden? Wo wollte er denn hin?«, hörte ich meinen Gebieter murmeln.
Pause.
»Aber das ist doch erst drei Tage her, vielleicht hat er keinen Empfang mit dem Handy?«
Er versuchte, Selma zu beruhigen.
»Mmmh, das Handy ist eingeschaltet, nur die Mobilbox meldet sich ... es kann ja auch sein, dass er es irgendwo verloren hat. Bestimmt sitzt er gerade in diesem Moment über irgendwelchen Funden und ist völlig darin vertieft, sodass er alles um sich herum vergessen hat!«
Am anderen Ende wurde verzweifelt auf ihn eingesprochen. Lange Zeit blieb Tanner still, nickte nur hin und wieder.
»Selma, ich werde auf jeden Fall noch heute Abend einige Personen kontaktieren, die Toni kennen müssten. Danach melde ich mich wieder bei dir. ... Ja, versprochen! Bis dann!«
Er legte den Hörer auf und schaute mich mit sorgenvollem Blick an.
»Dieser verdammte Toni! Was treibt er denn jetzt schon wieder?«, murmelte er vor sich hin.
»Was ist denn los?«, wollte Anny wissen.
Ich auch, um ehrlich zu sein.
»Selma macht sich große Sorgen. Toni ist vor sechs Tagen nach Frankreich aufgebrochen, um sich Funde aus frühkeltischen Fürstengräbern anzuschauen. Er hatte vor, eine Publikation darüber zu verfassen. Normalerweise meldete er sich jeden Tag bei ihr, meint sie. Aber seit einigen Tagen kann sie ihn nicht mehr erreichen. Das Handy ist eingeschaltet, aber es geht niemand ran.«
»Selma ist sowieso eine fürchterliche Glucke«, entgegnete Anny verächtlich. »Selbst wenn ihre Tochter nur mal eben um die Ecke geht, bekommt sie eine Panikattacke.«
Tanner sah Anny mit großen Augen an und seufzte.
»Sei nicht unfair, Anny. Du weißt genauso gut wie ich, dass ihr Bruder im Alter von vier Jahren überfahren wurde. Sie trägt immer noch die Schuld mit sich rum, obwohl sie damals selbst erst sechs war. Davon kommt sie nicht mehr los.«
Anny sah betroffen zu mir.
»Du hast recht. Es fällt mir nur hin und wieder sehr schwer, ihr Verhalten immer mit dieser alten Geschichte zu entschuldigen. Du weißt doch auch, dass sie eine äußerst komplizierte Person sein kann.«
Tanner nickte zustimmend.
»Ich werde auf jeden Fall einige frühere Kommilitonen anrufen. Vielleicht finde ich heraus, was Toni daran gehindert hat, sich bei seiner Familie zu melden. Es ist nicht das erste Mal, dass er meint, die Welt bestünde nur noch aus Archäologie.«
Mein Herr und Gebieter griff nach seinen Zigaretten und machte sich auf den Weg nach draußen.
»Rauch nicht so viel!«, rief Anny ihm hinterher.
»Lies dich nicht dusselig!«, entgegnete Tanner gereizt und marschierte zur Terrassentür hinaus. Ich quetschte mich an ihm vorbei nach draußen.
Wenn Tanner etwas hasste, dann war es Bevormundung. Egal, was man sagte oder wie man es anstellte, er nahm alles sehr persönlich und schoss ohne Vorwarnung zurück. So wie jetzt.
»Was
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