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Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)

Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)

Titel: Willkommen auf Skios: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Frayn
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»Du böser Junge«, flüsterte sie. »Hörst du nie deine Nachrichten ab?«
    Dr. Wilfred fand das leise Flüstern so reizvoll wie alles andere, doch den Sinn der Worte schwer ergründbar. »Welche Nachrichten?« sagte er.
    Die magische Hand hielt inne. Einen Augenblick lang verharrte sie reglos. Dann wich der lange weiche Körper, der sich an seinen Rücken geschmiegt hatte, abrupt zurück, das Bett machte einen heftigen Satz und das Moskitonetz zerriss, als die Person aus dem Bett und in die Dunkelheit davonschoss.
    Er war zu perplex, um irgend etwas zu verstehen, dann, als das Licht anging, zu geblendet, um etwas zu sehen, schließlich, als sich das Zimmer mit Geschrei erfüllte, zu betäubt, um denken zu können. Durch den rosa Schleier in seinen Augen sah er allmählich, dass das Geschrei von irgendwo aus einem Wust von zerrissenem Moskitonetz, das sich an die Wand neben dem Lichtschalter drückte, zu kommen schien.
    Er setzte sich mühsam auf, um klarer denken zu können. Sofort schrie das Moskitonetzbündel lauter denn je, hob diverse, auf dem Boden verstreute Kleidungsstücke auf und rannte ins Bad. Es folgte das Geräusch eines Riegels, der vorgeschoben wurde.
    Er hatte zwei Worte geäußert, aber in seinem Schockzustand erinnerte er sich nicht mehr, welche es gewesen waren. Wie konnten sie nur gelautet haben? Gewiss hatten noch niemals zuvor in der Geschichte der Vortragsreisenden zwei Worte eine so abrupte und totale Umkehrung des Schicksals bewirkt.

14
    Irgendwo auf der Welt, vielleicht in Amerika oder Indien, in einer riesigen elektronischen Maschine unter vielen anderen, sagte eine unhörbare Stimme: »Hallo! Ich weiß, es klingt wie ich. Aber ich bin es nicht. Es ist nur mein Telefon, das so tut …«
    Und dann, vielleicht in derselben Maschine, vielleicht in einer anderen, vielleicht sogar auf einem anderen Kontinent, flüsterte eine andere unhörbare Stimme verzweifelt: »Oliver, bitte , geh ans Telefon! Ich habe mich im Bad eingesperrt! Er hämmert gegen die Tür! Ich dachte, du wärst es! Er hat mich beinahe vergewaltigt! Ich weiß nicht, wie man in diesem Land die Polizei ruft. Oliver! Bitte hilf mir! Ich bin ganz allein! Im Bad!«
    Und dann, eine Minute oder zwei später, vielleicht in derselben Maschine, vielleicht nicht: »Hallo! Ich weiß, es klingt wie ich. Aber ich bin es nicht …«
    Gefolgt von einer Stimme, die sich zu einem hysterischen Schreien gesteigert hat: »Oliver! Wo bist du? Er war im Bett! Er hat so getan, als wäre er du. Er hat dir doch nichts angetan, oder? Dich gefesselt? Ermordet …?«
    Und vielleicht wieder in derselben Maschine, vielleicht in einer anderen in einem ganz anderen Erdteil, sprachen zwei unhörbare Stimmen gleichzeitig. Die eines Mannes:
    »Hören Sie, ich weiß nicht, was hier vorgeht – eine Frau ist in das Gästehaus eingebrochen – sie hat einen hysterischen Anfall – sie hat sich im Bad eingesperrt – können Sie jemand schicken – oder die Polizei rufen – oder mir sagen, welche Nummer ich anrufen soll –? Was haben Sie gesagt?«
    Und die einer Frau:
    »Hier ist die Fred-Toppler-Stiftung. Im Augenblick kann Ihr Anruf nicht entgegengenommen werden …«

15
    Während die Nacht fortschritt, wechselten Nikkis Sorgen um die Direktorenschaft die Gestalt, wie es Sorgen in der Dunkelheit oft tun. Jetzt hielt sie die Erinnerung an die Vergangenheit wach. Eine Vergangenheit, die erst ein paar Stunden alt war, aber so unwiederbringlich verloren wie ihre Kindheit. Noch einmal sah sie, wie sich der strubblige blonde Kopf langsam ihr zuwandte, wie der wehmütige Blick der dunklen Augen auf dem Schild verweilte, das sie hochhielt. Noch einmal sah sie die sommerliche Dämmerung seines Lächelns. Und das Lächeln wurde zum Sonnenaufgang seines Lachens.
    Immer wieder hörte sie den Namen. Dr. Norman Wilfred. Sie drehte sich auf die andere Seite und zog sich das Kissen über die Ohren, doch der Name sprach durch das Kissen hindurch. »Dr. Norman Wilfred.«
    Vielleicht könnte sie schlafen, dachte sie, wenn sie frische Luft ins Zimmer ließ. Jetzt konnte sie die Tür bestimmt gefahrlos entriegeln. Niemand würde um diese Nachtzeit versuchen einzudringen. Sie sprang aus dem Bett und fasste nach dem Riegel, als ihr Telefon klingelte. Sie stürzte zurück und griff danach. »Ja?« sagte sie atemlos. Zu spät erinnerte sie sich an den Tonfall, in dem sie sich üblicherweise meldete und der zu ihrem freundlichen Ausdruck und den frischen weißen Blusen passte.

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