Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)

Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)

Titel: Willkommen auf Skios: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Frayn
Vom Netzwerk:
Präsenz. Ein leises Geräusch vielleicht, das sich in das Summen der Klimaanlage mischte.
    Sie zog ihren Koffer ins Haus und schloss die Tür. Nach all den Abenteuern war sie endlich angekommen.
    Sie öffnete aufs Geratewohl eine Tür. »Oliver?« Doch in diesem Raum schnurrte nur ein riesiger Kühlschrank aus Edelstahl. Im diskreten Glühen des Lichts über der Arbeitsfläche standen die Überreste einer Pizza, ein einzelnes Weinglas und eine zu drei Vierteln geleerte Weinflasche.
    Sie versuchte es mit einer anderen Tür, und von hier, aus der Dunkelheit, kam das Geräusch. Atmen. Das tiefe, laute Atmen eines schlafenden Mannes unter dem Moskitonetz um das breite Bett. Sie war in ein Märchen geraten, nur war es umgekehrt als üblich; sie war die Prinzessin, die den verzauberten Prinzen aus seinem hundertjährigen Schlaf weckte. »Oliver!« flüsterte sie. Der schlafende Prinz schnaubte und drehte sich um. Aus dem lauten Atmen wurde Schnarchen. Sie erschrak. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, dass die leisen Worte, die dieses leicht wehmütige Gesicht im Wachzustand von sich gab, im Schlaf zu einem derben Grunzen wurden. Der Mut verließ sie, als sie an all die anderen beunruhigenden Kleinigkeiten dachte, die sie während der nächsten Tage über ihn herausfinden würde. »Oliver!« sagte sie in etwas schärferem Ton.
    Er schnarchte weiter unter dem weißen Netz. Im matten Licht, das durch die Tür fiel, öffnete sie ihren Koffer und nahm ihren Kulturbeutel heraus. Sie stolperte über seine Schuhe, als sie im Dunkeln ins Bad ging, doch er wachte immer noch nicht auf. Das Bad war ganz weiches Licht und weiche Handtücher. Sie war versucht, sich ein Bad einzulassen, gab sich jedoch damit zufrieden, sich gewissenhaft die Zähne zu putzen und diverse Cremes im Gesicht zu verreiben. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ja, nur noch ein paar Jahre und sie würde keine Dummheiten wie diese mehr begehen. Sie wäre zur Ruhe gekommen, ohne sich dafür anstrengen zu müssen.
    Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück. Das Schnarchen war lauter. Sie schloss die Tür. Es war vollkommen dunkel. Sie überlegte einen Augenblick. Schnarchen oder nicht schnarchen, seinetwegen hatte sie die weite Reise gemacht und war hier. Seinetwegen hatte sie so viel arrangiert und so viele Lügen erzählt. Sie zog sich aus und stand dann einen Augenblick zitternd da, ob aus Vorfreude oder aufgrund des kühlen Luftzugs aus der Klimaanlage wusste sie nicht.
    Behutsam tastete sie sich einen Weg unter das Moskitonetz. Behutsam machte sie es hinter sich zu.
    Er war so nackt wie sie, stellte sie fest, als sie sich neben ihm ausstreckte. Sein Rücken war eine Überraschung – er war mit rauhen Haaren bewachsen. Ebenso seine Brust, als sie den Arm um ihn legte. Sie fuhr mit der Hand durch das Dickicht. Er war viel korpulenter, als sie gedacht hatte; eine runde Schwarte lag seitlich auf dem Laken wie ein herunterhängender schwerer Vorhang. Sie gelangte zu einem noch dichteren Dickicht, und dort, mittendrin versteckt, ein Wesen, so klein und weich wie ein Ferkel. All die zärtliche Erregung, die sich in den letzten zwei Wochen in ihr angesammelt hatte, rührte sich wieder.
    Ebenso das Ferkel. Und endlich das große Vaterschwein, in dessen Fell es sich eingenistet hatte.
    Dr. Wilfred erwachte langsam aus dem Schlaf, um sich in einer höchst reizvollen Welt wiederzufinden, obschon er ein paar Sekunden brauchte, um sich darüber klarzuwerden, was das Reizvolle daran war. Auf früheren Reisen hatten sich bisweilen angenehme Intermezzi einer ganz bestimmten Art abgespielt. Jemand sprach ihn nach seinem Vortrag an. Sie hatte etwas nicht recht verstanden, wollte über etwas noch länger diskutieren. Ein Drink oder zwei. Vielleicht ein Austausch über Vorlieben und Gefühle … Hintergrund und Herkunft … Hoffnungen und Enttäuschungen … Dann meist eine gewisse Verlegenheit beim Entkleiden … Aber nie zuvor war er erwacht und hatte sich bereits mittendrin befunden, hatte alle langweiligen Präliminarien übersprungen. Die Pracht des Gästehauses der Fred-Toppler-Stiftung hatte den guten Ruf der Stiftung in der professionellen Welt bereits gerechtfertigt, doch er hätte nie gedacht, dass sie auch für derlei Annehmlichkeiten sorgten. Sein Pech mit dem Koffer und der etwas zu legere Empfang im Flughafen waren auf noble Weise wiedergutgemacht.
    Die unbekannte Besitzerin der so entzückend zudringlichen Hand drückte sich an seinen Rücken und küsste ihn aufs Ohr.

Weitere Kostenlose Bücher