Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)
Kathedralen standen wahrscheinlich nicht ganz oben auf ihrer beider Prioritätenliste.
»Haben Sie keine Freundin, Wilfred?« fragte sie. »Nein? Wie, nur eine Ehefrau? Oder nicht mal eine Frau?«
Er würde sich nicht auf ein Gespräch über seine häuslichen Verhältnisse einlassen. Er dachte vielmehr an das ungemachte Bett in diesem Haus. Manchmal würden sie aufstehen, dachte er. Vielleicht um sich in die Sonne zu legen. Im Pool zu baden. Was noch? Nichts. Zurück ins Bett. Ja, warum sollten wir einen Wagen brauchen? Oder vielmehr sie . Warum sollten sie einen Wagen brauchen?
»Lebensmittel«, sagte er. »Etwas zu essen. Nahrung. Sie wollten doch nicht die ganze Woche von tiefgefrorenem Brot und einem Paket gefrorener Erbsen leben?«
»Ich weiß nicht, was verabredet worden ist. Oliver wird sich vermutlich etwas überlegt haben.«
Es herrschte Schweigen, während sie beide über den möglichen Inhalt von Olivers Gedanken nachdachten.
»Oder vielleicht auch nicht«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass er denkt. Nicht diese Art von Gedanken jedenfalls. Er hat irgendeine Idee, und – wuff – er tut es.«
Wuff, er tut es. Selbstverständlich. Wuff, sie tun es beide. Dr. Wilfred war dieses charakterlose Paar und ihr hirnloses Vergnügen plötzlich zutiefst zuwider.
»Es geht mich natürlich nichts an«, sagte er, »aber was ist mit Ihrem anderen Freund?«
»Patrick? Er ist in der Türkei.«
»Er ist in der Türkei. Aha. Kaum kehrt Ihnen Patrick den Rücken, gehen Sie mit dem da auf und davon, oder?«
»Wie meinen Sie das? Es ist keine, Sie wissen schon, reguläre Sache! Ich habe nur ein einziges Mal mit ihm gesprochen. Ungefähr fünf Minuten lang.«
So etwas hörte man heutzutage über die jungen Leute immer wieder, dachte Oliver, dachte Wilfred, dachte Dr. Wilfred, aber man glaubte es erst, wenn man einem von ihnen persönlich gegenüberstand.
»Sie haben ihn nur einmal gesprochen?« sagte er. »Fünf Minuten? Ja, dann ist es was anderes.«
»Na ja, man muss spontan sein, oder? Man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen. Außerdem haben wir uns jede Menge SMS geschickt.«
Jede Menge SMS. Natürlich. Plus Brotscheiben und gefrorene Erbsen. Oder vielmehr, nein, keine Brotscheiben und keine gefrorenen Erbsen.
Und dann zurück ins Bett.
Über den Himmel zog eine weitere kleine Wolke. Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, war die Wolke verschwunden.
»Jetzt, wo ich drüber nachdenke«, sagte Georgie, »verstehe ich, warum er noch nicht aufgetaucht ist. Es ist, wie Sie gesagt haben – es gibt immer eine vollkommen logische Erklärung. Er hat sich nicht die Mühe gemacht, seine Mailbox abzuhören. Er weiß nicht, dass ich da bin. Er glaubt, dass ich erst heute abend komme.«
Die beiden Leberflecken, die Brotscheiben und das ungemachte Bett verflüchtigten sich in Dr. Wilfreds Kopf, als er die Implikationen dieser Aussage bedachte. »Sie meinen … er kommt vielleicht erst heute abend ? Aber da muss ich doch meinen Vortrag halten! Ich brauche das Taxi vorher ! Ich brauche es jetzt !«
»Sie werden sich entspannen und den Tag freinehmen müssen. Ich würde mir keine Sorgen machen. Den Leuten wird schon was anderes einfallen. Oft kommen sie gar nicht zu solchen Veranstaltungen.«
Er sah die Gesichter im Saal vor sich. Bekannte Gesichter, bedeutende Gesichter – Menschen, die aus Athen und von weiß Gott wo wegen des Fred-Toppler-Vortrags gekommen waren. Er hörte das angeregte freudige Gemurmel verstummen, als jemand ans Rednerpult trat, um ihn vorzustellen. Um ihn nicht vorzustellen. Um zu erklären, dass aus Gründen, die sich ihrer Kontrolle entzogen … Oder dass Dr. Norman Wilfred bedauerlicherweise indisponiert war … Oder ganz ehrlich, dass niemand wusste, wo er war. Er war einfach nicht gekommen.
Und er wäre statt dessen hier, toastete Brotscheiben mit einer völlig verantwortungslosen jungen Frau, die nicht der Ansicht zu sein schien, dass es wichtig war, ob die Leute ihre beruflichen Verpflichtungen einhielten oder ob sie sich einfach aus dem Staub machten und mit jemandem ins Bett sprangen, den sie nur fünf Minuten kannten. Nicht, dass sie mit ihm ins Bett springen würde, natürlich nicht, denn sie würde mit jemand anders ins Bett springen, und er würde, wenn überhaupt, in das Taxi springen, das den Mann gebracht hatte, mit dem sie ins Bett sprang; und er würde in den Vortragssaal rennen, gerade als alle gingen, und das wäre noch peinlicher, als wenn er überhaupt nicht
Weitere Kostenlose Bücher