Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)
vergewaltigt. Ich weiß nicht, wie man in diesem Land die Polizei ruft. Oliver! Bitte hilf mir! Ich bin ganz allein! Im Bad!«
Und wieder Stille.
Er sprang auf, überwältigt von Schrecken und Angst. Er musste etwas unternehmen, und zwar sofort! Aber was? Er lief zur Tür, wusste jedoch nicht, wohin er sollte. Er lief zurück, nahm das Telefon und versuchte, sie anzurufen. »Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar«, sagte es.
Sie saß also in einem Bad in der Falle. Bedroht von einem potentiellen Vergewaltiger. Irgendwo in der Türkei. Er musste die Polizei informieren, das lag auf der Hand. Welche Polizei, wo? In welchem Teil der Türkei, hatte sie gesagt, dass sie war? Oder – ja – die britische Botschaft! In Istanbul. Nein, Istanbul war nicht die Hauptstadt der Türkei … Wie hieß die Hauptstadt der Türkei? Er hatte vergessen, wie die Hauptstadt der Türkei hieß!
Als er bar jeder Hoffnung auf das Telefon blickte, sah er, dass eine noch frühere Nachricht von Georgie darauf wartete, abgehört zu werden. Er stählte sich für die nächste Schreckensbotschaft. Doch diesmal klang ihre Stimme völlig anders. Gehetzt und zusammenhanglos, aber sehr zufrieden.
»Hallo«, sagte sie. »Ich bin’s! Ich habe gesehen, dass es einen Flug nach Thessaloniki gab …«
Es fiel ihm schwer, die nebensächlichen Einzelheiten zu begreifen. Aber das Wesentliche verstand er. Sie war nicht mehr in der Türkei. Sie war angekommen. Sie war hier, auf Skios. Im Flughafen. Er blickte auf die Uhr. Wie lange brauchte er zum Flughafen? Und wann musste er seinen Vortrag halten? Nein, vergiss den Vortrag, vergiss den ganzen Dr.-Wilfred-Blödsinn. Georgie wurde in einer Toilette im Flughafen von einem Vergewaltiger bedroht, und er war dafür verantwortlich, dass sie hier war. Die Sache war ernst. Er hatte bislang keine große Übung darin, moralisch einwandfreie Entscheidungen zu treffen, doch unter diesen Umständen begriff sogar er, was Priorität hatte.
Er hastete durch das Zimmer, nahm Dinge, von denen er glaubte, dass er sie für die bevorstehende Aufgabe brauchte, und legte sie wieder weg. Bargeld, Kreditkarten. Telefon, Pass. Einen Schokoriegel und eine Packung wasserlösliches Aspirin, die er im Koffer gefunden hatte. Handy, Handy, wo war sein Handy? Er legte alles wieder weg. Ach ja, er hielt es in der Hand.
Er war sich im klaren darüber, dass er vor einer Zäsur in seinem Leben stand. Er wusste, dass er ohne Vorwarnung mit der Chance – der Notwendigkeit – konfrontiert war, der Mensch zu werden, der er schon immer hatte sein wollen. Er konnte nicht umhin festzustellen, dass er der Situation gewachsen war. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hatte er auf das beste Abenteuer verzichtet, auf das er sich bislang eingelassen hatte. Ganz zu schweigen von seiner bevorstehenden Stunde auf der Weltbühne und den vielen Millionen Dollar pro Jahr, die er für die diversen Jobs bekommen würde, die er angenommen hatte.
Und Nikki. Er hatte auf die Aussicht auf Nikki verzichtet. Einen Augenblick lang zögerte er, Schokoriegel und wasserlösliches Aspirin in der Hand.
Nein, nicht einmal der Gedanke an Nikki konnte ihn von seiner Pflicht abhalten. Außerdem hätte er irgendwann später vielleicht die Chance, für ein, zwei Stunden zurückzukommen und alles zu erklären.
Als er aus der Tür lief, dabei auf sein Handy schaute und fieberhaft überlegte, wie er ein Taxi rufen sollte, tanzte er links rechts links rechts ein Menuett mit einem kahlköpfigen Mann in einem Seersuckerjackett, der ihm mit einem Notizblock und einer Flasche Bourbon entgegenkam und sich so ehrerbietig mühte, ihm aus dem Weg zu gehen, dass er ihm ständig in die Quere kam.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte der Mann, genauso ehrerbietig, wie er von einer Seite zur anderen hüpfte, »aber könnten Sie mir sagen, wo ich Dr. Norman Wilfred finde?«
»Er ist weg«, rief Oliver über die Schulter, während er den Weg entlanglief. »Ausgegangen. Dringende Geschäfte andernorts.«
29
Dr. Wilfred brachte endlich die Willenskraft auf, sich von dem Krankenbett zu erheben, zu dem die Liege neben dem Pool geworden war. Er würde einen ersten Zug machen und hatte schließlich entschieden, auf welche Weise er ansetzen wollte. Oder vielmehr auf welche zwei möglichen Weisen. Er würde entweder »Also!« oder aber »Nun gut!« sagen. Er hatte sich noch nicht entschieden. Bevor er jedoch den Mund öffnen und erfahren konnte, was herauskam, wurde er sich eines leisen
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