Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)
angenommen hatte, es handele sich nicht um das Morgen von gestern, sondern von heute. Dann hätte er noch eine Nacht frei.
Er tippte auf das Telefon. Doch was ihm ins Ohr gellte, war nicht die Nachricht, dass sie morgen ankommen würde – es war unverständliche, hemmungslose Hysterie. Ihre Stimme war kaum zu erkennen. »Oliver! Wo bist du ?« schrie sie ihn an. Überrascht riss er sich das Telefon vom Ohr, aber er hörte noch auf Armeslänge, wie sie irre redete. Er schaltete das Telefon aus. Und entschied, dass er es aussitzen würde.
Er hatte sich offenbar irgendeinen Schnitzer geleistet. Vergessen, sie wie versprochen anzurufen oder ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Aber er hatte ihr versprochen, sie nicht anzurufen, während sie mit – wie hieß er? – Patrick zusammen war. Und ihr Geburtstag? Wo sie nur fünf Minuten miteinander gesprochen hatten?
Er ging pinkeln und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann setzte er sich hin und konzentrierte sich darauf, Dr. Norman Wilfred zu sein, auf so überwältigende, auf so bezeichnende Weise Dr. Norman Wilfred zu sein, dass er und Dr. Wilfreds alter Freund sich sofort als solche wiedererkennen würden.
Georgie lag den ganzen Nachmittag im Schatten des Sonnenschirms auf der Liege, offenbar vollkommen damit zufrieden, nichts zu tun. Vielleicht schlief sie. Dr. Wilfred jedoch wurde mit jeder Stunde, die verging, wacher. Er lag auf seiner Liege, den Kopf der Quelle seines Problems abgewandt, unfähig, sich zu bewegen. Ihm war schwindlig und schlecht, als hätte er Fieber. Seit über zwanzig Jahren hatte er diese Symptome aus diesem besonderen Grund nicht mehr gehabt. Ein so heftiger fiebriger Schauder durchfuhr ihn, dass er mit den Zähnen klapperte.
Er konnte nur an die beiden Leberflecken denken. An die beiden Leberflecken und die drei Kondome. She the only girl in the world, he the only boy. Die Frage war, was er diesbezüglich unternehmen sollte. Wie sollten sie die Situation beenden, in der sie auf ihrer Liege und er auf seiner Liege lag? Er musste etwas tun . Er musste irgendeinen Zug machen, oder sie würden auf ewig so liegenbleiben. Je länger er darüber nachdachte, desto weniger sah er allerdings, worin dieser Zug bestehen könnte.
Dr. Wilfred, dachte Oliver, dachte Dr. Wilfred, während er auf seinen alten Freund wartete. Ich bin Dr. Wilfred. Geboren, wo immer Dr. Wilfred geboren war. In die Schule gegangen, wo immer Dr. Wilfred in die Schule gegangen war. Kurz gesagt, ich bin Dr. Wilfred.
Er war jedoch etwas unkonzentriert, weil er immer wieder an Georgies hysterischen Tonfall denken musste. Ein beunruhigender Gedanke dachte sich irgendwie von selbst. Vielleicht hatte Georgies Empörung dieses schrille Ausmaß erreicht, weil sie auf die eine oder andere Weise herausgefunden hatte, wo er war. Womöglich war sie ihm sogar schon auf den Fersen. Das war natürlich ausgeschlossen. Oder? Sie hatte seinen plötzlichen privaten Seitensprung in Dr. Wilfreds Persönlichkeit unmöglich spitzkriegen können. Dr. Wilfred, Dr. Wilfred … Jedenfalls wartete sie noch immer in der Türkei auf einen Flug. Oder?
Er nahm sein Handy und tippte auf das Display. »Oliver! Wo bist du ?« kreischte sie erneut, doch diesmal hielt er das Telefon in Schreireichweite seines Ohrs. »Er war im Bett. Er hat so getan, als wäre er du. Er hat dir doch nichts angetan, oder? Dich gefesselt? Ermordet?«
Und dann Stille.
Er blickte erstaunt auf das Telefon. Es fiel ihm häufig schwer zu verstehen, worüber sich Frauen bei ihm beschwerten, aber nie zuvor war eine Beschwerde so unverständlich gewesen wie diese. Wer war dieser Mann, der im Bett war und all diese Dinge getan hatte oder hätte tun können? Patrick vermutlich. Aber warum hätte Patrick so tun sollen, als wäre er er? Wie hätte Patrick so tun können, als wäre er er, wo er ihn doch gar nicht kannte, da er Sorge dafür getragen hatte, von dem Hocker in der Bar aufzustehen und aus seinem Leben wieder zu verschwinden, bevor Patrick vom Rauchen zurückgekommen war? Und wie hätte Patrick ihn fesseln und ermorden können, wo er doch in der Türkei war und er selbst, ob nun als Dr. Wilfred oder nicht, in Griechenland?
Da war noch eine frühere, bislang nicht abgehörte Nachricht von Georgie.
»Oliver«, sagte die Stimme, diesmal nicht kreischend, sondern verzweifelt flüsternd, » bitte , geh ans Telefon. Ich habe mich im Bad eingesperrt. Er hämmert gegen die Tür. Ich dachte, du wärst es. Er hat mich beinahe
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