Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)
aufgetaucht wäre.
»Aber andererseits, jetzt, wo ich drüber nachdenke«, sagte Georgie. » Warum hat er sich nicht die Mühe gemacht, seine Mailbox abzuhören? Ich weiß, warum – weil er eine halbe Stunde herumhing, ohne was zu tun zu haben, und er ist in eine Bar gegangen, und dort hat er eine Frau gesehen, und er hat sich die Haare aus den Augen gestrichen und sie auf seine lächerliche Art angegrinst, und deswegen kommt er auch heute abend nicht oder morgen oder irgendwann diese Woche.«
Dr. Wilfred dachte darüber nach. Vielleicht würde er doch nicht in den Vortragssaal rennen, gerade als alle gingen. Vielleicht wäre er noch hier. Die ganze Woche.
»Jetzt sind Sie dran, Wilfred«, sagte Georgie. »Etwas zu essen, ja. Nahrung. Sie fangen besser an zu überlegen, wie wir was zu essen auftreiben.«
Das tat er bereits. Er sah vor sich, wie er in den nächsten Tagen die Hügel durchstreifte. Mit den Bauern wegen Brot verhandelte. Obst von den Bäumen stahl. Fasane strangulierte. Die umherschweifenden Ziegen melkte. Ihm ging ein altes Lied durch den Kopf, das er seit seiner Kindheit nicht mehr gehört hatte: »If you were the only girl in the world, and I was the only boy …«
»Es ist wahrscheinlich nur für ein paar Tage«, sagte Georgie. »Früher oder später wird jemand Sie vermissen. Ihre Frau oder so. Und einen Suchtrupp losschicken.«
Früher oder später, ja. In der Zwischenzeit jedoch …
Schon waren die enttäuschten Besitzer all dieser ehrfürchtig erhobenen Gesichter aus seinen Gedanken verschwunden, als hätten sie nie existiert. Ebenso der Vortrag und seine beruflichen Verpflichtungen und sein Ruf. Die zwei Leberflecken hatten sie der Vergessenheit überantwortet. Und die drei Kondome in der rechten Innentasche seines Jacketts.
Und der Text des Liedes. »If you were the only girl in the world«, murmelten ihm die Worte zu, immer wieder, als hätten sie ein Eigenleben angenommen, »and I was the only boy …«
28
Eine Feuerglocke wurde geläutet. Oliver, der sofort höchst beunruhigt war, schaute aus dem Bullauge des Theaters, in dem er gleich mit seiner Jongliernummer auftreten sollte, und sah Flammen aus dem rauchenden Triebwerk auf der Steuerbordseite schlagen. Er mühte sich erschrocken in eine sitzende Position.
Spätnachmittägliche Sonne schien durch unbekannte Vorhänge. Er befand sich in irgendeinem Schlafzimmer, nicht in einem Theater oder Flugzeug. Doch die Glocke läutete noch immer. Nur dass es keine Glocke war – es war das Telefon neben seinem Bett. Er nahm den Hörer ab und brachte einen Laut wie hallo zustande.
»Ich bin’s«, sagte eine Frauenstimme. »Nikki.«
Stimme und Name klangen vertraut, aber ihm war nicht klar, wem sie gehörten. »Hm?« sagte er.
»Ich spreche doch mit Dr. Wilfred?« sagte die Stimme.
»Falsch verbunden«, murmelte er und schlief wieder ein.
Als das Telefon erneut klingelte, lachte die Frau.
»Ich spreche also nicht mit Dr. Wilfred?« sagte sie.
Es war ihr Lachen, das ihn schließlich weckte und eine Normalität herstellte, die ihm bekannt vorkam.
»Nikki!« sagte er. »Nikki? Nikki …«
»Oh, Sie sind also doch Dr. Wilfred?«
»Ich habe geschlafen.«
»Allerdings. Tut mir leid, dass ich Sie wecken musste.«
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Unwichtig. Sie haben den Schlaf offenbar gebraucht. Vielleicht haben Sie letzte Nacht nicht genug geschlafen. Wie auch immer, wir sind jetzt da. Er bringt nur seine Tasche in sein Zimmer und macht sich frisch. Dann kommt er.«
»Wer kommt?«
»Wellesley Luft! Ihr alter Freund!«
Jetzt war er noch wacher. Das kann ich, dachte er augenblicklich. Ich kann jedem alles einreden. Sogar meinem alten Freund Wellesley Luft, dass er mich als Dr. Wilfred kennt. Er soll nur kommen.
Als er den Hörer auflegte, sah er sein Handy neben dem Telefon der Stiftung liegen, vernachlässigt und vergessen, wo er es nach seiner Ankunft am Abend zuvor hingelegt hatte. Er schaltete es ein. Er fand sowohl SMS als auch Nachrichten in seiner Mailbox vor. Er öffnete die SMS. Fünf neue von Annuka. Er überflog sie auf dem kleinen Display. Sie schien etwas besänftigt und verzieh ihm, dass er ihr gestattet hatte, ihn hinauszuwerfen.
Dann hörte er die Mailbox ab. Die jüngste Nachricht war von Georgie. Ja, er sollte sie noch einmal anhören, wie er es sich heute morgen versprochen hatte, damit er ihr morgen wahrheitsgemäß sagen konnte, dass er, als sie erklärte, sie komme morgen an, vernünftigerweise
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