Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)
das gesamte speziell verfasste Material umsonst.
Er blätterte weiter. »… Herausforderungen … Hoffnungen und Befürchtungen …« Irgendwie jedoch schien das alles nicht ganz so fesselnd, nicht ganz so real wie zuvor. Aber hier war eine gute Stelle: »Eine konzertierte und phantasievolle Aktion sowohl seitens der Regierungen als auch seitens der Industrie ist gefordert …«
Oder war es doch nicht so gut?
Er blätterte ein paar Seiten weiter, aber seine Gedanken schweiften ab. In der Luft zwischen ihm und der Seite waren wie zwei aufdringliche Fliegen zwei schwarze Punkte aufgetaucht. Er wischte sie beiseite. Und wandte sich wieder dem Absatz über das umfassende Gefüge gesellschaftlicher Verantwortung zu. Die zwei schwarzen Punkte kehrten zurück. Er erkannte sie als zwei Leberflecken. Sie hatten sich von dem Schulterblatt gelöst, auf dem sie lebten, und ihre Zelte in seinem Gehirn aufgeschlagen.
Er versuchte den Blick auf das umfassende Gefüge und die konzertierte Aktion zu konzentrieren, aber sie hatten allen Wert verloren. Der gesamte Vortrag war vor seinen Augen zu Staub zerfallen. Er war erleichtert, dass die Wahrscheinlichkeit, ihn vor Publikum vorlesen zu müssen, jetzt in weite Ferne gerückt war.
Daraufhin schoben sich nicht nur die beiden Leberflecken zwischen ihn und den Text, sondern auch das Schulterblatt, auf dem sie lebten, schimmernd von der Creme, die er darauf verrieben hatte. Da war die kleine schimmernde Erhebung, die das obere Ende des Rückgrats markierte, und die schimmernde Kette der Wirbel, die hinunterführten bis zu den kleinen Mulden zu beiden Seiten des Steißbeins …
Er erinnerte sich daran, wie sehr Georgie ihn bestärkt hatte. Wie sehr sie an ihn geglaubt hatte. Wie sie fraglos akzeptiert hatte, was kein anderer auf dieser Insel akzeptierte, nämlich dass er Wilfred hieß. Oder zumindest, dass einer seiner Namen Wilfred lautete. Und da sie ihn Wilfred genannt hatte, hatte er sich wieder wie in der Schule gefühlt, in der er beim Nachnamen gerufen worden war. Er war wieder jung gewesen.
Und sie hatte an seinen Vortrag geglaubt. Sie hatte ihm alles Gute gewünscht. Ihn zum Abschied geküsst …
Er war verrückt gewesen, sie zu verlassen! Und mittlerweile wäre ihr Freund aufgetaucht und hätte Anspruch auf sie erhoben.
Nein! Hätte er nicht! Dr. Wilfred begriff in dem zweiten Heureka-Erlebnis, das ihm an einem einzigen Tag zuteil wurde, wer Georgies Freund war und warum er nicht bei ihr war. Endlich war ihm die ganze Geschichte klar. Endlich ergab sie einen Sinn.
Ja. Es war Georgies Freund gewesen, der ihm seinen Koffer, sein Taxi, sein Zimmer, sein Leben weggenommen hatte. Und der jetzt den Platz beim Abendessen einnahm, der ihm zustand – der in seiner Skaterhose dasaß, umgeben von bewundernden Gesichtern und aufmerksamen Mikrofonen, und sich den dicken Bauch mit einem speziell zubereiteten, zwiebellosen Gericht nach dem anderen vollstopfte.
Während die arme vertrauensvolle Georgie hoch oben in ihrer einsamen Bergklause wartete, verlassen und vergessen.
Und wenn ihr Freund hier war, hatte sie noch immer nichts zu essen. Dr. Wilfred spürte die nagende Leere in ihr, das Unbehagen, die Abgeschlagenheit nahezu ebenso schmerzhaft, wie Georgie sie spüren musste. Dieses unermessliche herzzerreißende Unrecht überwältigte ihn.
Je länger Dr. Wilfred darüber nachdachte, um so bedrohlicher erschien ihm Georgies Lage. Nicht nur hatte sie Hunger – sie hatte keinerlei Aussicht, je wieder etwas zu essen zu bekommen. Oder ihre Not der Außenwelt mitzuteilen. Bis ihr klar wäre, dass niemand kommen würde, könnte sie möglicherweise zu schwach sein, um sich zu einer anderen Ansiedlung durchzuschlagen und um Hilfe zu bitten. Es war nicht unmöglich, dass eine gesunde junge Frau im Hochsommer auf einer Mittelmeerinsel verhungerte. Oder?
Alles war möglich. Der schreckliche dickbäuchige Hochstapler in der Skaterhose hatte es während der letzten vierundzwanzig Stunden wieder und wieder bewiesen.
Er sprang auf und kehrte zum jetzt verlassenen Tempel der Athene zurück. Zwischen den leeren Gläsern und umgekippten Flaschen lagen Platten mit noch nicht gegessenen Kanapees. Auf einer Platte stellte er eine ziemlich repräsentative Auswahl zusammen: weichgekochte Gartenammereier, Anchovis in Absinth und winzige Körbchen, aus Seegras geflochten, gefüllt mit Hummertatar und Fouetté von Haifischflossen. Er bedeckte die Platte mit einem Tischtuch, klemmte den Vortrag unter
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