Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)
wollen, dass dieser lächerliche kleine Betrüger Ihren Vortrag hält?«
Dr. Wilfred hielt das Manuskript in die Höhe. » Meinen Vortrag kann er nicht halten.«
»Nein, er wird tun, was er immer tut – er wird sich beim Reden irgendwas ausdenken! Irgendeinen kompletten Blödsinn. Sie sind doch bekannt, oder? Sie werden noch viel bekannter sein, wenn die Leute hören, was Sie angeblich gesagt haben! Sie werden zum öffentlichen Gespött werden!«
Das arme gebrochene Exemplar schwieg noch immer.
»Kommen Sie!« sagte sie. »Wachen Sie auf! Reißen Sie sich zusammen! Diese kleine Ratte hat Ihr Leben gestohlen.«
Herrgott, dass man sich bei Männern immer so anstrengen musste! Es hätte umgekehrt sein sollen! Er hätte sich bemühen müssen, um sie zu überzeugen!
»Sie machen sich doch nicht etwa Sorgen um Ihre hungernde Freundin, oder? Ich sage Ihnen, wo sie jetzt ist. Beim Essen! Mit ihm! Schlägt sich den Bauch voll!«
Doch er schien sie vergessen zu haben. Sie war durch eine Folge von Irrtümern und Zufällen auf einmal in sein Leben getreten. Jetzt, durch eine weitere Folge von Irrtümern und Zufällen, war sie wieder daraus verschwunden.
»Aus verschiedenen Gründen hatte ich einen ziemlich anstrengenden Tag«, sagte er. »Ich glaube, am liebsten würde ich, wenn Sie damit einverstanden sind, ins Haus zurückfahren. Wir könnten die Kanapees aufessen. Früh ins Bett gehen vielleicht.«
Sie blickte ihn an. Er begann sich doch keine Hoffnungen im Hinblick auf sie zu machen, oder? Das wäre natürlich typisch. Ein Spatz in der Hand – dem konnte auch Oliver nie widerstehen.
Ja. Gut. Trotzdem. Sie modifizierte ihre Vorgehensweise ein wenig.
»Wir werden das gemeinsam durchziehen«, sagte sie leise und schaute ihn unverwandt an, bis er die Intensität ihres Blicks spürte und sie ansah. Sie lächelte. Er blickte von ihr weg und dann wieder zu ihr. Sie schaltete das Licht im Wagen ein, damit er in den Pupillen ihrer weitgeöffneten, dunklen südländischen Augen das gelbbraune Blitzen baltischen Bernsteins sehen konnte.
Sie hatte ihn eindeutig ein wenig verunsichert. Sie hatte auch sich selbst ein wenig verunsichert, merkte sie jetzt, da sie ihn so unerbittlich anstarrte. Er war nicht ganz so alt und gebrochen, wie sie zunächst gedacht hatte. In der schummrigen Beleuchtung, bei der sein geröteter kahler Schädel und seine schmuddligen Kleider kaum mehr zu sehen waren, wirkte er gar nicht mehr so, nun, unbedeutend. Ein paar Spuren seines Prestiges, das er ihr über den Kanapees beschrieben hatte, waren noch zu erkennen. Er war nicht im entferntesten der Mann, den sie, wie sie zuinnerst wusste, wirklich verdiente, der ruhige, lachende, rücksichtsvolle Riese, der mit den Kindern herumtollte, wenn sie von einer aufreibenden Verhandlung mit ihren Bankerkollegen aus Zürich zurückkehrte, alles liegen und stehen ließ, die Arme um sie schlang und sie herumwirbelte, bis er und sie und alle sechs Kinder lachend auf dem Teppich vor dem knisternden Feuer im Kamin übereinanderpurzelten. Aber er stellte etwas dar in der Welt. War begehrt als Redner bei internationalen Konferenzen und Festivals. Sie sah vor sich, wie sich Köpfe umwandten und Kameras blitzten, als er und sie in Montreal oder Montevideo eintrafen für ihre gemeinsame Präsentation …
Ein absurder Gedanke. Dennoch achtete sie darauf, dass sie ihn noch immer liebevoll anblickte, als er sich wieder ihr zuwandte. Er lächelte. Ein bisschen wehmütig vielleicht, ein bisschen verlegen, aber resigniert.
Also – sie würden es durchziehen. Sie würden Mr. Oliver Fox ein für allemal den Garaus machen. Endlich den Drachen töten, der im ganzen Land Chaos und Verwüstung angerichtet hatte.
Sie neigte sich zum Fahrer vor.
»Treten Sie aufs Gas, Stavros. Sie heißen doch Stavros, oder?«
»Spiros«, sagte Spiros.
Doch statt schneller zu fahren, wurde er langsamer. Das Taxi pflügte um ein Hindernis herum. Im Scheinwerferlicht schien es ein kaputter Koffer zu sein, den jemand mitten auf der Straße stehengelassen hatte und aus dem ein Haufen staubiger Schuhe und Kleider quollen.
»Eine Schweinerei, was manche Leute mit ihrem Müll machen«, sagte Annuka Vos.
Dr. Wilfred schwieg.
Nikki stand noch immer in Parmenides, Dr. Norman Wilfreds Pass in der Hand. Wo war er? Der echte Dr. Norman Wilfred?
In London velleicht. Er hatte seinen Flug versäumt. Nein, er hatte den Flug erwischt – sie hatte mit seiner PA gesprochen. Und das Flugzeug war gelandet.
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